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Full text of "Griselidis in der französischen Literatur"

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VON 


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Gedruckt mit Genehmigung der philosophischen Fakultät der 
Universität Tübingen. 
Referent: Professor Dr. Voretzsch. 
25. Juli 1908. 


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Meinen Eltern. 


Lebenslauf. 


Geboren bin ich, Richard Schuster, am 6. Januar 1884 
in Heilbronn, als Sohn des jetzigen Stationsverwalters Schuster 
in Dusslingen O.-A. Tübingen. Ich besuchte die Friedrich- 
Eugenrealschule in Stuttgart und die Oberrealschule in Reut- 
lingen. An dieser erlangte ich 1902 das Zeugnis der Reife, 
1904 erhielt ich durch eine Ergänzungsprüfung im Lateinischen 
das Reifezeugnis eines württembergischen Realgymnasiums. Von 
1902--1907 studierte ich neuere Sprachen und Geschichte haupt- 
sächlich an der Universität Tübingen. Im Sommersemester 1903 
besuchte ich die technische Hochschule in Stuttgart. Ausserdem 
hielt ich mich vom Sommer 1905 ab 10 Monate in Frankreich 
auf, ich studierte in Besancon und Paris und war zwischen- 
durch (vom November 1905 bis März 1906) assistant allemand 
am Iyc&e Chanzy in Charleville. Von Juni bis September 1906 
war ich in London und kehrte dann nach Tübingen zurück, wo 
ich die zwei folgenden Semester blieb. Im Oktober 1907 be- 
stand ich die erste Dienstprüfung für das realistische Lehramt 
sprachlich-geschichtlicher Richtung und war bis nach Ablegung 
der zweiten Dienstprüfung, Herbst 1908, an der Oberrealschule 
in Heilbronn verwendet. Zur Zeit genüge ich meiner Militär- 
pflicht im Hohenzollernschen Fussartillerie-Regiment Nr. 13. in 
Ulm a.D. 

Meine Lehrer waren die Professoren v. Below, Bohnen- 
berger, Busch, v. Fischer, Franz, Jakob, Pfau, Sapper, 
T Sigwart und Voretzsch (Tübingen); F Koller, f Weit- 
brecht (Stuttgart). 

Ihnen allen sage ich herzlichen Dank, insbesondere Herrn 
Professor Dr. Voretzsch. Er hat auf mein Studium grossen 
Einfluss gehabt und ist allezeit ein gütiger Förderer desselben 
gewesen, auch hat er mich auf vorliegendes Thema hingewiesen 
und mich während der Ausarbeitung jederzeit aufs freundlichste 
mit Rat und Tat unterstützt. 


Vorwort. 


In der vorliegenden Abhandlung: „Griselidis in der fran- 
zösischen Literatur“ habe ich sämtliches auffindbare Material 
über die Verbreitung des Griselidisstoffes in Frankreich ver- 
arbeitet. Den Stoff habe ich im allgemeinen innerhalb der 
einzelnen Gattungen chronologisch angeordnet. Bei den Prosa- 
bearbeitungen habe ich den französischen Übersetzungen der 
Petrarkaschen Griselidis, den Drucken aus dem Anfang des 
16. Jahrhunderts einen verhältnismässig grossen Raum für die 
Besprechung gegönnt. Dies lässt sich mit der Seltenheit der 
Drucke rechtfertigen, sowie auch damit, dass die von Köhler 
angekündigte nähere Besprechung dieser Drucke nicht zur 
Ausführung gelangt ist. 

Den fünf deutschen Verserzählungen stehen nur zwei 
französische gegenüber; von diesen verdient die Arbeit Imberts 
im Vergleich zu jener Perraults weitaus den Vorzug. 

Von den fünf dramatischen Bearbeitungen hat nur eine 
auf der Bühne Erfolg gehabt, die Griselidis von Armand Silvestre 
und Eugene Morand. Eine eingehende, allseitige Besprechung 
des modernen Mysteres dürfte daher schon von diesem Gesichts- 
punkt aus betrachtet als berechtigt erscheinen. 

Als bibliographische Unterlage hat dieser Untersuchung 
Reinhold Köhlers Griselda-Artikel gedient, wie er sich in R. 
Köhlers Kleineren Schriften Bd. 2, S. 501—534 findet. 

Die französischen Bearbeitungen sind fast durchweg schwer 
zu erreichen, da die verschiedenen Werke sich wieder auf ganz 


verschiedenen Bibliotheken befinden. Dem Auskunftsbureau 
der deutschen Bibliotheken in Berlin W. 64, Behrenstrasse 70, 
bin ich für die stets bereitwillig erteilten Büchernachweise zu 
grossem Dank verpflichtet. Auf den befragten grösseren Bib- 
liotheken hat sich jedoch die Comedie der Madame de Sain- 
tonge nicht nachweisen lassen, sie ist daher auf die ofllizielle 
Suchliste gesetzt worden, ohne dass bis jetzt ein positiver Erfolg 
erzielt wurde. I 


Vorwort . 
I. Die 


II. Die 


‘Inhaltsangabe. 


ältesten Bearbeitungen des Stoffes vom Mittelalter 
bis zur Renaissancezeit . 

BoccacciosGriselidis und Petrarkas Verhältnis z zu dieser 
Übersicht über die Griselidisliteratur . 
Ursprung und Geschichte des Stoffes 

Die älteste Bearbeitung in französischer Sprache: 
Histoire von 1315 

Notiz über eine Bemerkung; am Schluss der Hand- 
schrift. Spons Miscellanea eruditae antiquitatis. Die 
lateinische Inschrift betreffend die Nymphae Griselicae 
aus dem dritten Jahrhıundert ; 

Die Handschriften der Petrarkaübersetzung ind die 
französischen Volksbücher des 16. en 

Das moderne Volksbuch ; 

Die Griselidis des Olivier de la Marche 
Verserzählungen der neueren Zeit er 
Perraults Novelle. Hervorhebung der Unterschiede 
zwischen Perrault und Imbert. De und 
Kritik von Imberts Griselidis . 


die 


III. Die dramatischen Bearbeitungen der neueren Zeit 


Allgemeines 

Die Griselidis der Madame de Saintonge 

Die Com&die gemessen nach dem Massstabe des 18. 
Jahrhunderts 

La Griselde, tragi- -comedie Alaltenne). en u nctes von 
Luigi Riccoboni, dit Lellio . 


. Die Ballet-Pantomime von Dumanoir und Mazilier 


IV. Die 


Anhang: 


Griselde ou la fille du peuple, drame en 3 actes, en 
vers, von Chr. Ostrowski 

Ostrowskis Griselidis. Kritik. Vetgieichung mit Halm 
Griselidis von A. Silvestre und E. Morand 
Biographie von A. Silvestre 

Die Komposition der Griselidis 

Die poetische Sprache der Griselidis 

Die Quellen des modernen Mysteres 

I. Der Reim in Silvestres Griselidis 

2. Der lateinische Brief Petrarkas 


Seite 
I—II 


1—38 
l— 5 
5— 9 
9—12 


13—14 


15—16 


16—33 
33—35 
36—38 
39—49 


39—49 - 
50—87 
50—52 
52—60 


61—63 


64—68 
69—70 


71—80 
81—87 
88—129 
88—91 
91—110 
111—116 
116—129 
130— 134 
135—142 


Digitized „Google 


l. Die ältesten Bearbeitungen des Stoffes vom 
Mittelalter bis zur Renaissancezeit. 


„Griselidis est le plus beau type de la patience ‘et de la 
„fdelite conjugales; mais ce type abonde dans la litterature du 
„moyen äge et des temps modernes. Chose singuliere, jamais 
„la femme n’a ete plus censurde et plus moquee que dans la 
„litterature du moyen äge, et jamais non plus elle n’a et& plus 
„lou&e et plus glorifide. Cette grande part qu’elle a en bien et 
„en mal t@moigne du rang nouveau de la femme dans la societe; 
„elle tEmoigne surtout de son independance. Ce qui honore 
„Griselidis, c'est que sa soumission est volontaire et devouee. 
„I yaeu dans l’antiquite, il ya en Amerique des femmes qui 
„ne sont pas mieux traitees que Griselidis, qu’on prend et qu’on 
„quitte, & qui on arrache leurs enfants; mais ce sont des es- 
„claves, A qui la loi refuse le droit d’avoir une volonte Dans 
„Griselidis, la femme a change l’esclavage en obeissance; c’est 
„la son merite, et la litterature du moyen äge ou la litterature 
„moderne a souvent represente ce me£rite dans la femme, soit 
„qu’elle I’y trouvät par experience, soit qu’elle l’admirät par 
„rarete.“ 

So urteilt im Jahre 1860 Saint-Marc Girardin im vierten 
Band seines Cours de litterature dramatique auf S. 335 ff. 

Die Griselda taucht zum ersten Male im 14. Jahrhundert 
in der Literatur auf, sie bildet die letzte Novelle von Boccaccios 
Decamerone, ihr Inhalt ist hier folgender: 

Gualtieri, Marquis von Saluzzo wurde von seinen Vasallen 
wiederholt gebeten, sich zu vermählen, damit er nicht ohne 
Erben und sie nicht ohne Lehensherrn blieben („accio che egli 

l 


2 Richard Schuster. 


senza erede, ne essi senza Signor rimanessero“). Stets war ihm 
die Jagd lieber gewesen als die Frauen. Endlich willfahrt er 
ihren Bitten und zwar nicht ohne gewichtige Bedenken gegen 
die Heirat vorzubringen. Seine Lehensleute müssen ihm jedoch 
versprechen, jede beliebige Wahl einer Gattin gut zu heissen. 
In einem Orte nahe bei Saluzzo wohnt ein armes schönes 
Mädchen Griselda, sie will er zu seiner Gemahlin erheben, die 
Einwilligung des armen Vaters Gianucolo wird sofort erlangt 
Einige Tage verstreichen, reichlich ausgefüllt mit den Vorbe- 
reitungen und Zurüstungen zur bevorstehenden Hochzeit, die 
Braut weiss noch nichts von der auf sie gefallenen Wahl des 
Markgrafen; im Beisein ihres Vaters fragt dieser sie nun: 
„se ella sempre, togliendola egli per moglie, s’ingegnerebbe 
„di compiacergli, e di niuna cosa, che egli dicesse, o facesse, 
„non turbarsi; e s’ella sarrebbe obediente, e simili altre cose 
„assai, delle quali ella a tutte rispose di si.“ 

In Gegenwart zahlreicher Personen lässt sie nun der Graf 
schöne und reiche Kleider anlegen und- ihr einen Kranz aufs 
Haar setzen, hierauf stellt er sie seiner Umgebung als die von 
ihm Erkorene vor und sofort wird die Hochzeit gefeiert. Neun 
Monate später gebiert sie eine Tochter. Kurz hernach beginnt 
ihre Leidenszeit, Gualtieri verfällt auf den sonderbaren Gedanken 

„di volere con lunga esperienzia, e con cose intollerabili 
„provare la pazienzia di lei.“ 

Ein Diener, vom Markgrafen beauftragt, kommt, um die 
Tochter, welche die Untertanen angeblich nicht anerkennen 
wollen, zu holen und -— wie Griselde meint — zu töten. Sie 
nimmt das Kind aus der Wiege, küsst und segnet es und gibt, 
sich gewaltsanı beherrschend, dem Diener das Kind in den Arm 
und spricht: 

„Te, fa compiutamente quello, che il tuo e mio Signore 
„tha imposto, ma non la lasciar per modo, che le bestie, e 
„gli uccelli la divorino.“ 

Der Diener geht nun auf Befehl seines Herrn zu einer 
vornehmen Verwandten, welche das Kind sorgältig erziehen 
und ausbilden soll. | 

Als nach einiger Zeit Griselde Mutter eines Sohnes wird, 
widerfährt diesem anscheinend das gleiche Schicksal, aber auch 
er wird nicht getötet, sondern wie seine Schwester nach Bologna 


Griselidis in der französischen Literatur. 3 


gebracht. Die Untertanen haben das innigste Mitleid mit Griselde 
und tadeln in bitteren Worten die Grausamkeit ihres Herrn. 
Gualtieri aber will nun, um eine andere Gattin wählen und 
Griselde verlassen zu können, vom Papste Dispensation seiner 
Ehe erwirken. Kurz darauf lässt er sich gefälschte Briefe aus 
Rom einhändigen: durch diese Schriftstücke macht er seine 
Untertanen glauben, der erforderliche Dispens vom Papste sei 
eingetroffen. Seiner Frau aber teilt er mit, er wolle eine eben- 
bürtige Gattin sich erwählen, sie aber könne mit der ihm zu- 
gebrachten Mitgift in ihres Vaters Haus zurückkehren. 

Mit grosser Selbstbeherrschung und übermässiger An- 
strengung hält sie ihre Thränen zurück und spricht: 


„Signor mio, io conobbi sempre la mia bassa condizione 
„alla vostra nobilitä in alcun modo non convenirsi, e quello, 
„che io stata son con voi, da voi e da Dio il riconoscea, ne 
„mai, come donatolmi, mio il feci o tenni, ma sempre l’ebbi 
„come prestatomi: Piacevi di rivolerlo, et a me dee piaccere, 
„e piace di renderlovi. Ecco il vostro anello, col quale voi 
„mi sposaste, prendetelo.. Commandatemi, che io quella dote 
„me ne porti che io ci recai: alla qual cosa fare, ne a voi 
„pagatore ne A me borsa bisognerä ne somiere, perciö che 
„uscito di mente non m’& che ignuda m’aveste. E, se voi 
„giudicate onesto, che quel corpo, nel quale io ho portat; 
„figliuoli da voi generati, sia da tutti veduto, io me n’andrö 
„ignuda; ma io vi priego in premio della mia virginitä, che 
„io ci recai, e non ne la porto, che almeno una sola camiscia 
„sopra la dote mia vi piaccia, che io portar ne possa‘“ 


Gualtieri, äusserlich streng, im Innern jedoch tief gerührt, 
gestattet ihr, dass sie nach dreizehnjähriger Ehe wenigstens mit 
einem Hemde bekleidet zu ihrem Vater Gianucolo zurückkehre. 

Kurze Zeit darauf lässt der Graf sie wieder holen und 
befiehlt ihr, die Zurüstungen zu seiner Hochzeit mit der Tochter 
des Grafen von Panago zu treffen; wenn die Hochzeit vorüber 
sei, könne sie wieder heimkehren. In ärmlichem Gewand 
entbietet Griselde heiteren Antlitzes der zwölfjährigen Braut und 
ihrem sechsjährigen Bruder den herzlichsten Willkommgruss. 
In Gegenwart vieler fragt Gualtieri Griselde lächelnd, wie sie 
über seine Gemahlin denke. „Viel Gutes denke ich von der 
jungen Braut, und wenn ihr Verstand ihrer Schönheit entspricht, 


4 Richard Schuster. 


so werdet ihr, mein Gebieter, mit ihr glücklich werden.“ Doch 
beschwört sie ihn, dem Herzen der jungen Braut die Stiche zu 
ersparen, die sie selbst, unter Entbehrungen und Mühsalen aller 
Art zur Jungfrau erwachsen, von ihm erduldet, die junge Gattin 
würde ihrer Jugend und weichlichen Erziehung wegen eine 
solch harte Behandlung nicht ertragen können. Nun ist auch 
die letzte Probe Griseldens zu Ende und der Markgraf spricht: 
„Weil ich niemals gesehen habe, dass du in Worten oder Taten 
dich von meinen Wünschen entfernt hättest, und ich überzeugt 
bin, dass ich durch dich das Glück erreichen kann, das ich 
begehrte, so gedenke ich, dir auf einmal alles wiederzugeben, 
was ich dir einzeln zu vielen Malen raubte, und durch höchste 
Freuden die Wunden zu heilen, die ich dir zufügte. So um- 
fange denn jreudigen Mutes diese, die du für meine Braut 
hieltest, und ihren Bruder als deine und meine Kinder Sie 
sind dieselben, welche du und viele andere seit lange grausam von 
mir ermordet wähnten, und ich bin dein Gemahl, der dich über 
alles liebt und glaubt sich rühmen zu können, dass kein anderer 
lebe, der gleich mir Ursache hat, sich seiner Gattin zu freuen.“ 

Darob freuten sich alle unaussprechlich und mehrere Tage 
dauerten die Festlichkeiten. Wenn man auch den Grafen für einen 
weisen Mann hielt, so erachteten doch alle die Proben, welchen 
er seine Gattin unterworfen hatte, für hart und unerträglich. 

Angeregt durch die Novelle Boccaccios hat sein Freund 
Petrarka ihm einen Brief geschrieben, der betitelt ist: de obedien- 
tia ac fide uxoria mythologia.!) Dieser Brief enthält die latei- 
nische Nacherzählung von Boccaccios Griselidis. Die prächtige 
Beschreibung der Pest am Anfang des Decamerone und die 
Griselidanovelle gefallen Petrarka am meisten, denn diese beiden 
Stücke gehören zu den „pia et gravia“, die er „inter multa sane 
iocosa et levia“ gefunden. 

Die Erzählung Petrarkas schliesst sich, was den Gang der 
Handlung anbetrifit, ganz an Boccaccio an. Der Geist aber, 
der die Petrarkasche Erzählung durchzieht, ist moralisch-didak- 
tisch, man vergleiche zur lllustrierung die religiöse Schlussmoral 
Petrarkas.’) 


1) Dieser Brief findet sich auf Seite 541—46 der opera Petrarkas. (Basler 
Ausgabe v. J. 1554.) Siehe Abdruck der Nacherzählung im Anhang. 

2) Der Schluss des Briefes ist abgedruckt bei Widmann 8.7, siehe ferner 
den Anhang. 


Griselidis in der französischen Literatur. 5 


Boccaccio steht dem ganzen Stoff viel unbefangener und 
mit gesunderem Gefühl gegenüber, dies zeigt schon ein Ver- 
gleich von Petrarkas lateinischem Schlusssatz mit dem iolgen- 
den Boccaccios: „Wer ausser Griselden hätte, nicht bloss mit 
trockenem, sondern mit heiterem Auge die rauhen und nie zu- 
vor erhörten Proben zu bestehen vermocht, welchen Gualtieri 
sie unterwarf? Diesem aber wäre es vielleicht verdienter Lohn 
gewesen, wäre er auf eine getrofien, die, als er sie im Heınde 
aus.dem Hause verjagte, sich von einem andern ihr Pelzchen 
so hätte schütteln lassen, dass ihr ein schönes Kleid daraus 
entstanden wäre!“ 

Petrarka hat auch die Hauptcharaktere mit moralisch- 
didaktischem Geiste durchtränkt, vor allem sucht er die Hand- 
lungsweise Walthers humaner zu zeichnen, eine bessere Be- 
gründung der Gehorsamsproben liefert freilich auch er nicht. 
Alle Einzelheiten finden bei Petrarka eine eingehendere, breitere 
Darstellung, damit hängt auch zusammen, dass Petrarka, wo es 
nur angeht, seine Personen in direkter Rede so ausführlich als 
möglich sprechen lässt, Boccaccio, der jede unnötige Detail- 
malerei vermeidet, bevorzugt durchweg die indirekte Rede. 

Petrarkas Erzählung hat sich über das ganze Abendland 
hin verbreitet und hat die Quelle gebildet für prosaische und 
poetische Bearbeitungen aller Art. 

Die verschiedenen Formen der literarischen Einkleidung 
haben in den letzten zwei Jahrzehnten von verschiedenen Seiten 
eine eingehende literarhistorische Behandlung erfahren. Eine 
kurze Übersicht über diese Griselidisliteratur wird 
in mannigfacher Hinsicht lohnend sein. 

Die älteste Arbeit, abgesehen von der später zu besprechen- 
den Dissertation von Groeneveld, ist vom Jahre 1888 von 
Friedrich von Westenholz.!) Er hat sich nicht die Aufgabe 
gestellt, ganz eingehend die Wandlungen und Bearbeitungen des 
Griseldisstofies in einem bestimmten Lande darzustellen, sondern 
er hebt die Bearbeitungen heraus, die durch Originalität der 
Darstellung oder durch die Namen ihrer Verfasser ihm einer 
besonderen Berücksichtigung würdig zu sein scheinen. Neben 
den beiden grundlegenden Bearbeitungen und den auf Petrarka 
zurückgehenden Volksbüchern wird ein deutsches, dänisches, 


1) Fr. von Westenholz!: Die Griselidissage in der Literaturgeschichte. 
Heidelberg 1888. 


6 Richard Schuster. 


russisches und isländisches Märchen besprochen. Die poetischen 
Bearbeitungen gliedert Westenholz in epische und dramatische 
Dichtungen. Chaucer’s Tale und Perraults Novelle erfahren 
nebst einer altenglischen Ballade unter den epischen Gedichten 
eine eingehende Besprechung. Von dramatischen Dichtungen 
werden vier eingehend besprochen: The pleasant comedy of 
patient Grissil,!) die spanische Komödie des Lope de Vega, die 
Griseldiskomödie des Hans Sachs und das dramatische Gedicht 
Griseldis von Friedrich Halm. 

Sechs Jahre später erschien eine Strassburger Dissertation: 
die Griseldissage auf der iberischen Halbinsel von Franz Xaver 
Wannenmacher.?) Wichtig ist in dieser Schrift besonders die 
Einleitung, die nach einer Kritik und Besprechung der Haupt- 
charaktere den mutmasslichen Quellen der Boccaccioschen Novelle 
eingehende und gründliche Untersuchung angedeihen lässt. Den 
Stoff selbst ordnet Wannenmacher nach Sprachgebieten. Vom 
spanischen Gebiet behandelt er der Reihe nach Castigos y do- 
trinas, die Griselidis Timonedas, die Griselidis Lope de Vegas 
und die spanische Romanze des Anönimo. Dann erfahren drei 
Bearbeitungen auf portugiesischem Gebiete nähere Behandlung 
und zwar das Märchen des Trancoso, das Drama von Nicolaus 
Luiz, die Constancia de Grizelia von Theophilo Braga. Das 
katalanische Gebiet weist nur eine Bearbeitung in der Historia 
d’Walter e de la pacient Griselda von Bernat Metge auf. 

Reinhold Köhler hat im Jahre 1871 in Ersch und Grubers 
Allgemeiner Encyclopädie der Wissenschaften und Künste?) einen 
Artikel Griselda veröffentlicht. Im Jahre 1900 ist dieser mit 
vielen Zusätzen und Erweiterungen aufs neue erschienen in den 
Kleineren Schriften zur erzählenden Dichtung des Mittelalters von 
Reinhold Köhler, herausgegeben von Johannes Bolte (S. 501—555). 
Er enthält den Inhalt der Novelle Boccaccios und dann genaue 
bibliographische Nachweise über die Verbreitung des Griselda- 
stoffes in den bekannten Kulturländern. Zuerst werden die 
Volksbücher, dann die poetischen Bearbeitungen (Epos und 
Drama) besprochen und zuletzt wird noch die Griseldisnovelle 


1) Das gemeinsame Werk der drei Autoren Thomas Dekker, Henry Chettle 
und William Haughton. 

?) Wannenmacher: Die Griselidissage auf der iberischen Halbinsel, Strass- 
burger Diss. 1894. 

3) Bd. 91, Sp. 4135—421e. 


Griselidis in der französischen Literatur. 7 


als Volksmärchen behandelt. Diese grundlegende für jeden 
Griselidisforscher unentbehrliche Arbeit umfasst 54 Seiten. 

Luigi Savorini hat i. J. 1901 veröffentlicht: La leggenda 
di Griselda, Parte prima. Teraımo, Rivista Abruzzese. 6. Diese 
68 Seiten starke Schrift enthält ausser einer allgemeinen Ein- 
leitung eine Untersuchung über den Ursprung des Stoffes und 
eine Besprechung der Arbeiten von Boccaccio und Petrarka. 
Er weist erneut auf die Ähnlichkeit des lai del Fresne der 
Marie de France mit der Novelle Boccaccios hin und nimmt 
eine gemeinsame Quelle für beide an. Savorini sieht die Ent- 
stehung der Griselidisiabel „als wertvolle Schöpfung des Volks- 
idealismus“ an und leugnet entgegen anderen Forschern geist- 
lich lehrhafte Einflüsse (vgl. die Kritik Widmanns im Littbl.?f. g. 
und r. Ph. 24 S. 117—119),. 

Siefkens Arbeit vom Jahre 1903: Der Konstanze-Griseldis- 
typus in der englischen Literatur, behandelt das geduldige 
Weib in der alt- und mittelenglischen Literatur. Dem geist- 
lichen Typus der Dulderin Konstanze und ähnlichen Stoffkreisen 
widmet er der stärkeren Verbreitung wegen bei der Besprechung 
einen grösseren Raum als dem rein weltlichen Typus der Dulderin, 


der uns in den einzelnen Erzählungen des Griseldiskreises 


entgegentritt. Zu diesem Kreise rechnet er ausser der Griselidis- 
erzählung noch das Lai von Fresne und den Kreis des nuss- 
braunen Mädchens. Eine eigentümliche Auffassung von Grisel- 
dens unbedingtem Gehorsam zeigt Sieiken, wenn er schreibt: 


„Griseldens unbedingter Gehorsam ist nicht so sehr 
„der Ausfluss der mittelalterlichen Unterordnung der Frau 
„unter den Mann als die Folge der absoluten Abhängigkeit 
„der Leibeigenen von ihrem Herrn.“ 


Siefken kann weder bei Boccaccio noch bei Petrarka 
einen einzigen Beleg dafür anführen, dass Gianucolo und seine 
Tochter Leibeigene des Grafen waren; daher dürfte wohl nach 
wie vor Griseldens beispielloser Gehorsam der auf die Spitze 
getriebene Ausdruck des mittelalterlichen Verhältnisses zwischen 
Mann und Weib sein. 

Im Jahre 1905 erschien eine Tübinger Dissertation von 
Gustav Widmann:') Griselidis in der deutschen Literatur des 


1) Vollständig ist die Arbeit abgedruckt im Euphorion, Band XILI, 
8.1—47, und 8. 535—556, Band XIV, 8. 101—134. 


8 Richard Schuster. 


19. Jahrhunderts. In seiner Einleitung über Eigenart, Ursprung 
und Geschichte des Stoffes hat der Verfasser alle wichtigen 
Fragen, die sich an den Stoff anschliessen, erörtert. Er bespricht 
auch in wertvollen Anmerkungen die italienischen Arbeiten 
von Patrucco und Savorini. Boccacios und vor allenı Petrarkas 
Bearbeitung als gemeinsame Quelle der späteren Darstellungen 
werden besprochen, in Anmerkungen finden sich reichlich 
lateinische Citate des schwer zu erlangenden Petrarkaschen 
Briefes. Er behandelt die verschiedenen deutschen volkstüm- 
lichen Prosabearbeitungen des Petrarkaschen Textes und ana- 
Iysiert noch am Schluss seines ersten Hauptteils zwei deutsche 
Griselidis-Märchen. Nach den fünf deutschen Verserzählungen 
werden die dramatischen Bearbeitungen besprochen, und von 
diesen besonders eingehend Halms Griselidis. 

Widmann fasst das Ergebnis seiner Untersuchung in das 
Schlussurteil zusammen, dass der Griselidisstoff nach den Be- 
arbeitungen, die er in der deutschen Literatur des 19. Jahr- 
hunderts erfahren hat, unter die Dinge gehört, über deren 
Daseinsberechtigung durch das Wort entschieden wird: Sint ut 
sunt aut non sint. | 

Neben den deutschen Forschern hat sich auch ein nieder- 
ländischer Gelehrter J. Verdam mit dem Griselidisstoff beschäftigt, 
er hat im Jahre 1898 in der Tijdschrift voor Nederlandsche 
Taal- en Letterkunde einen Artikel veröffentlicht „De Griseldis- 
Novelle in het Nederlandsch.“ Er kennt die Artikel von Westen- 
holz und Köhler. Von Übersetzungen gehen in den Niederlanden 
drei auf Petrarka zurück, eine von diesen niederländischen Über- 
setzungen ist bei Verdam auf S. 19-—30 abgedruckt, lateinische 
Citate unter dem Text sorgen für das nötige Verständnis. Eine 
vierte Prosabearbeitung von Van Coornhert ist nach Boccaccio 
übersetzt.') 

Die poetischen niederländischen Bearbeitungen zerfallen 
auch in epische und dramatische. Von zwei Verserzählungen 
werden einige Strophen angeführt. Das älteste Drama ist von 
einem Priester Eligius Houckaert of Houcarius verfasst und im 
Jahre 1519 zu Antwerpen gedruckt worden. Zu jedem Werk 
gibt Verdam genaue bibliographische Angaben. Er beschränkt 

1) Als vierde proza-bewerking in onze taal naem ik de vertaling van Coorn- 


hert, in zijne „Vijftigh lustighe Historien oft Niew wigheden Joannis Boccatü“, 
warin de laatste vertelling de geschiedenis bevat en beschrijft van Griseldis. 


Griselidis in der französischen Literatur. 9 


sich im allgemeinen darauf, Äusserlichkeiten wie verschiedene 
Namensformen in den verschiedenen Werken festzustellen, eine 
Inhaltsangabe wird weder bei den Prosa- noch bei den poe- 
tischen Bearbeitungen gegeben. Auf Ursprungsfragen hat sich 
Verdam überhaupt nicht eingelassen. 

Über den Ursprung und die Geschichte des 
-Stoffes haben sowohl Deutsche wie Italiener, auf das bis 
jetzt vorliegende Material gestüzt, eingehende Untersuchungen 
angestellt. | 

Von den Deutschen ist es zuerst v. Westenholz gewesen, 
der in seinem Buche: Die Griseldissage in der Literaturgeschichte 
(siehe oben S.5), eine Vergleichung zwischen den beiden 
ältesten Aufzeichnungen überhaupt angestellt hat. Er hat die 
italienische Bearbeitung Boccaccios mit der Steinhöwelschen 
deutschen Übersetzung der lateinischen Überarbeitung Petrar- 
kas verglichen!) und nach einer ausführlichen Inhaltsangabe 
der Erzählung von Boccaccio weist er auf die Unterschiede 
in der Auffassung des Griselidisstoffes zwischen Boccaccio 
und Petrarka hin und sucht nachzuweisen, dass Griselidis bei 
Boccaccio in ihren Reden nirgends eigentlich als das liebende 
Weib zu erkennen und nur der Gehorsam die alleinige Richt- 
schnur ihres Handelns sei. Petrarka dagegen, meint er, 
lasse es sich angelegen sein, die bedingungslose Unterwürfig- 
keit der Griselda unter den Willen des Gemahls aus der Liebe 
zu erklären, von welcher er ihr Herz völlig erfüllt sein lässt. 
Demgegenüber gibt Gustav Widmann, dessen Forschungen auf 
ein vollständigeres Material basiert sind, der Erzählung Boc- 
cacios den Vorzug vor derjenigen Petrarkas. Mit Recht weist 
er darauf hin (S. 6 ff.), wie weit Petrarka von dem gesunden 
Gefühl und der freien Stellung, die Boccaccio der Griselidis- 
novelle gegenüber einnimmt, entfernt ist, wenn er das Ver- 
halten des Markgrafen als una matta bestialit@ bezeichnet und 
nur bedauert, dass er ungestraft davon gekommen ist. 

Was den Ursprung der Sage betrifit, so weist schon Groene- 
veld auf die Ähnlichkeit bei der Vermählungsfeier zwischen 
dem Lai der Marie de France „Fresne“ und der Griselidis hin, 
Eingehender wird das Verhältnis dieser beiden Erzählungen in 

ı) Von der Kritik ist dieser methodische Fehler stark getadelt worden, der 


Verfasser hätte unter allen Umständen der Vergleichung den lateinischen Text 
zu Grunde legen müssen. 


10 Richard Schuster. 


der Wannenmacherschen Arbeit besprochen, worin :auch die 
mutmasslichen Quellen und die grundlegenden literarischen 
Bearbeitungen der Fabel behandelt werden. Wannenmacher 
weist auf S. 29-32 da und dort sogar Übereinstimmung in den 
Ausdrücken zwischen dem Lai del Fresne!) und Boccaccio nach, 
und vermutet mit Recht, dass der Verfasser des Decamerone 
das Lai der Marie de France gelesen hat. 

Siefken (S. 74) geht wohl zu weit, wenn er als das ge- 
meinsame Grundmotiv zwischen beiden Erzählungen die Über- 
einstimmung ansieht, dass Fresne und Griselidis bei der Hoch- 
zeitsfeier ihres ehemaligen Geliebten Dienste tun und der Braut 
freundlich entgegen kommen. 

Höchstens könnte man in dieser Ähnlichkeit ein und nicht 
das gemeinsame Grundmotiv sehen, bei der Griselidis muss 
man schon von Grundmotiven sprechen und das sind zweifellos 
die Gehorsamsprüfungen. Zu diesen gehört allerdings auch das 
Verhalten der Griselidis bei der zweiten Vermählung des Marquis. 

Sieiken, der nur die Arbeit von v. Westenholz zu kennen 
scheint, weist auf S.77 die Übereinstimmung beider Erzählungen 
in verschiedenen Hauptpunkten nach. 

Wir werden Wannenmacher beipflichten, der nachgewiesen 
hat, dass die von den Engländern so gern mit Griselidis in 
Verbindung gebrachte Nut-Brown Maid als Quelle Boccaccios 
abzulehnen ist, wenn er sagt: „Alle Einzelheiten der Quelle 
Boccaccios lassen sich freilich in der uns zugänglichen Erzäh- 
lungsliteratur nicht mehr nachweisen, es sind uns aber auch 
nicht alle Novellenstoffe erhalten, die Boccaccio zur Verfügung 
standen. Die erwähnten Erzählungen aber beweisen, dass schon 
vor Boccaccio der Stoff von der verstossenen, ‘duldenden Gattin 
und Mutter ein beliebter war. Er gestaltete ihn nach eigenem 
Geist und Vermögen, ohne Erfinder des Grundgedankens zu 
sein. Ihm gehört jedenfalls der Versuch, in seiner Griseldis- 
novelle jenes: Dulden bis zur alleräussersten Grenze des Mög- 
lichen und Erlaubten, mit einem Wort — bis zur matta bestialitä 
— emporgeschraubt zu haben.“ 


1) Inhaltsangaben des Lai del Fresne bei Siefken 8. 71 ff. und Wannen- 
macher S.29 f. Der Text des Lais findet sich in den von Karl Warnke heraus- 
gegebenen Lais der Marie de France, in Suchiers Bibliotheka Normannica III, 
S.54-74. In seinem Spielmannsbuch hat Wilhelm Herz auf S. 157-170 eine 
prächtige neuhochdeutsche Übersetzung der Fresne gegeben. 


Griselidis in der französischen Literatur. 11 


Eine neue These hat Angelo de Gubernatis aufgestellt. 
Er hat auf dem 13. internationalen Orientalistenkongress in 
Hamburg im September 1902 einen Vortrag gehalten: De Sa- 
countala a Griselda, le plus ancien des contes aryens In diesem 
Vortrag weist er nach, dass die Novelle des Decamerone iden- 
tisch ist mit einem Märchen, das sich ın den russischen 
Volkserzählungen von Afanassiefi findet. Nun geht weder 
die russische Erzählung auf den Decamerone noch dieser 
auf die erstere zurück. Diese überraschende Ähnlichkeit er- 
klärt er durch die Annahme einer gemeinsamen byzanti- 
nischen Quelle. 

In den Verhandlungen des 13. internationalen Orientalisten- 
kongresses, Hamburg, September 1902, findet sich der Vortrag 
‘von de Gubernatis allerdings nur verkürzt.!) Es heisst dort u. a. 


„L’auteur donne un developpement tres large & toute 
„cette these, pour en venir enfin au conte de Boccace; il 
„signale sa ressemblance d’un cötE au lai de Marie de France, 
„de Pautre aux contes populaires de !’Italie meridionale et 
„sourtout de la Sicile; il montre en outre, que le conte du 
„Decameron est identique & celui de la pastourelle &Eprouvee 
„du recueil des contes populaires russes d’Afanasiefl. Le 
„conte russe serait-il derive du Decameron? Non? Le conte 
„italien remonterait-il au conte russe? Moins encor. Com- 
„ment donc expliquer cette ressemblance frappante? L’auteur 
„pense qu’il serait sage de songer ä une source commune 
„byzantine, et il fournit des preuves de cette derivation 
„probable.“ 


Es ist bis jetzt noch keinem Forscher gelungen, für die 
Griseldissage eine historische Grundlage zu schaffen. Mulatti, 
der Historiograph von Saluzzo, vermag ausser Vermutungen 
nichts Historisches beizubringen. (Wannenmacher S. 27.) Eben- 
sowenig können Jean Bouchet, Noguier, Manni und Michaud 
auf Grund irgend einer historischen Urkunde beweisen, dass 
Griselidis und Walter wirklich gelebt haben. (Wannenmacher 
S. 24 fi.) Einiges Licht ist uns über einige Fragen durch die 
09) Der Vortrag findet sich nach einer Mitteilung des Auskunftsbureaus 
der deutschen Bibliotheken vollständig in den Cronache delle civilta Elleno-Latin«. 
3. 1905. In Deutschland ist diese Zeitschrift nirgends vorhanden, sie wurde von 
d. A.d.d. B. auf die offizielle Suchliste gesetzt. Da mir der Vortrag nur im 
Auszug vorliegt, kann ich leider die Resultate von Gubernatis nicht nachprüfen. 


12 Richard Schuster. 


Schriften der Italiener Savorini (La leggenda di Griselda, siehe 
oben S.6) und Patrucco (La storia della leggendadi Griselda, 
Saluzzo 1901) zugekommen. Savorinis Arbeit ist die erste, die 
eine wirklich umfassende literarhistorische Entwickelung des 
Griselidisstoffes geben will, lässt aber in der wissenschaftlichen 
Durchführung im Einzelnen, soweit der bis jetzt allein er- 
schienene erste Teil erkennen lässt, vieles zu wünschen übrig. 
(Widmann, Littbl. f. g. u. r. Phil. 24, S.117—119.) Patrucco weist 
an der Hand von Dokumenten die getreue Wiedergabe der 
feudalen Verhältnisse in der Novelle Boccaccios nach, ebenso 
mehrere Signori des Namens Valterus in einer Familie, die in 
Saluz begütert war und sich daher auch de Salucijs nannte. 
(Widmann, Littbl. 26, Nr. 3.) 

Leider war mir die Schrift Monacis: „La novella di Gri- 
selda secundo la lezione di un manuscritto non ancora illustrato 
del Decamerone“ (Nozze Tommasini-Bronn, Perugia 1902) nicht 
zugänglich. Es ist möglich, jedoch nicht gerade wahrschein- 
lich, dass Monaci neues Material aufgefunden hat, meiner Ver- 
ımutung zufolge handelt es sich nur um eine andere Lesart der 
Novelle Boccaccios. 

Ob Boccaccio den Stoff mündlich überliefert oder durch 
eine lateinische Vorlage vermittelt bekam, wissen wir nicht, die 
Entstehungsgeschichte des Stoffes ist aus Mangel an authen- 
tischem und beweiskräitigem Material noch in Dunkel gehüllt. 
(Widmann S. 2.) Auf jeden Fall ist sicher, dass Boccaccio bei 
der Abfassung seiner Novelle Züge aus französischen fabliaux 
ınit in seine Erzählung übernommen hat, ohne dass man ein 
ganz bestimmtes französisches fablel als ursrüngliche Quelle 
nachweisen kann. Julleville behauptet zwar, die Abenteuer des 
lai du Fröne der Marie de France seien weit ausführlicher in 
einem fabliau erzählt. Der ursprüngliche Text sei jedoch noch 
nicht wieder aufgefunden worden; jedenfalls habe aber Petrarca 
diesen Text gekannt, ehe er den Decamerone gelesen habe 
(vgl. Le Petit de Julleville: Histoire du theätre en France. Les 
mysteres 2. Bd., S. 243). Mit dieser Vermutung lässt sich in- 
dessen nichts anfangen. 

Für die Weiterverbreitung des Stoffes in Frank- 
reich ist wie allüberall sonst ganz allein die in der interna- 
tionalen Literatursprache erschienene lateinische Bearbeitung 
Petrarkas massgebend gewesen. 


‘Griselidis in der französischen Literatur. 13 


Die älteste dramatische Bearbeitung und die älteste Bear- 
beitung in französischer Sprache überhaupt, das alte Mystere 
von 1395, geht auf Petrarka zurück. Groeneveld hat das Drama 
herausgegeben und bespricht sehr eingehend die Handschrift, 
Drucke und Erwähnungen des Dramas, dann die metrische und 
dramatische Technik, die Stellung des Griseldisdramas in der 
gieichzeitigen dramatischen Literatur Frankreichs und schliesst 
mit Bemerkungen über die Sprache und die Quelle der historia 
de Griseldis. | 

Ebert (S. 33) stellt das Drama schon zu den „Mysteres, 
welche rein profane Stoffe behandeln.“ Groeneveld sagt mit 
Recht hiezu (S. 21): 


„Eben darum ist es kein Mystere. Es legt sich in der 
„hs. selbst auch keinen andern Titel bei als „histoire“. 


Die „Histoire de Griseldis“ ist also die älteste uns bekannte 
französische Moralite, und zwar eine Histoire im Gegensatze 
zu den allegorischen Moralites. (Ebert S.36). Die moralisierende 
Absicht des Stückes tritt im Prolog verschiedentlich hervor: 

Aflfin que l’en si puist mirer (12).... 

Si fait bon oyr exemplaire (18) 

Et bonnes vertus raconter, 

Dont on puet par raison monter 

En l’estat de perfection (21). 
Ebenso unbekannt wie der Verfasser der Histoire de Griseldis 
ist auch der Ort, an welchem das Drama entstand. Diesen aus 
der Sprache zu bestimmen, macht deshalb Schwierigkeiten, weil 
diese, von einigen picardischen Formen abgesehen, fast schon 
dialektfrei ist. (GroeneveldS.36.) Am Ende des 14. Jahrhunderts ist 
die Verwischung und Vermengung der Dialekte ın den Literatur- 
denkmalen schon in solchem Masse eingetreten, dass sich aus 
der Sprache allein der Entstehungsort des Dramas nicht wohl 
mit Sicherheit bestimmen lässt. Aus den Gesprächen der 
Hirten, die danach angetan sind, zur Erheiterung der Gross- 
städter zu dienen, und die sich damals schon gern über die 
Provinzialen lustig machten, schliesst Groeneveld, das Drama 
sei in Paris verfasst worden. 

Als Quelle der Histoire de Griseldis führen Köhler und 
Petit de Julleville den lateinischen Brief Petrarkas an. Groene- 
veld weist in 15 Hauptphasen der Handlung die Übereinstimmung 
zwischen Petrarka und der Histoire nach (S. 37—40). Als Eigen- 


14 Richard Schuster. 


tum des französischen Verfassers sind einige nebengeordnete 
Szenen zu betrachten: die beiden Jagden, die Gespräche der 
Mädchen und der beiden Hirten, die förmliche Trauung von 
Gautier und Griseldis, die Darstellung der Geburt beider Kin- 
der, die Klagen des Janicola, als seine Tochter zu ihm zurück- 
kehrt, und die Ausrichtung der verschiedenen Botschaften. 
Letztere mussten notwendig hinzugedichtet werden, weil dem 
Verfasser doch oblag, das in Handlung umzusetzen, was er 
in seiner Quelle oft nur mit wenigen Worten angedeutet fand 
(Groeneveld S. 40—41.) 

Die Groeneveldsche Edition, die auch auf die Verschieden- 
heiten des in 42 Exemplaren herausgegebenen Neudrucks vom 
Jahre 1832 gegenüber der Handschrift hinweist, ist philologisch 
sehr genau und zuverlässig) und wird in Zukunft wohl ein 
Vergleichen mit dem Original überflüssig machen. 

Am Ende der Handschrift befindet sich folgende Anmerk- 
ung, die von einer späteren Hand, vielleicht gegen Ende des 
17. Jahrhunderts herrührt: 

„On a trouve en Provence une inscription qui marque 
qu’icele (!) nom de Griseldy (comme la M. de Saluce est appellee 
dans ce livre) nestpas nouveau puisquon apelloit les Nymphes 
d’un certain endroit Griselicis.“ 

Spon = X. 94 myscell.“ 

Die Citation Spon 94 mysc. hat Groeneveld wegen der un- 
deutlichen Schrift wahrscheinlich übersehen oder aber nichts 
mit ihr anzufangen gewusst. Nachdem ich in der Nouvelle 
biographie generale Bd. 44, S. 354 über Spon die nötige Aus- 
kunft erhalten, fand ich in dem Werke dieses gelehrten Lyoner 
Altertumsforschers Miscellanea eruditiae antiquitatis, Lyon 1685 
auf S. 94: 


ı) Die auf der Nationalbibliothek in Paris befindliche Handschrift der 
Griselidis habe ich mit der Groeneveldschen Edition kollationiert: ausser ge- 
legentlich ganz unbedeutenden orthographischen Verschiedenheiten habe ich zwischen 
Handschrift und Druck vollständige Übereinstimmung feststellen können. 


Griselidis in der französischen Literatur. 15 


XLLX Nymphar. Griselicar. 
In pago Greoulx Provinciae Gallicae, ad Balnea reperta. 


NYMPHIS XL 
GRISELICIS. 


Ex Peireskij') schedis. 


Prodeat jam in scenam Nympharum chorus, 

quae hoc in pago verisimiliter olim Griselo dicto, 

cum recentiore nomine Greoulx conveniente 

Griselicae cognominabantur, balneorum _illic 
celebrium custodes. 


Dieses noch jetzt wegen seiner MHeilquellen bekannte 
Greoulx?) liegt im französischen Departement Niederalpen, 
Arondissement Digne, am Verdon. Ein Blick auf die Karte 
zeigt uns, dass Saluzzo, die Kreishauptstadt in der italienischen 
Provinz Cuneo, zwischen dem Po und der Varaita, und das 
französische Departement Niederalpen nicht sehr weit ausein- 
anderliegen; daher wäre das Vorkommen des Namens Griselica 
resp. ital. Griselda in benachbarten Gebieten leicht erklärlich 
und begreiflich. 

Das von Peiresc wiedergegebene Fragment wird durch 
ein zweites, 182] aufgefundenes Fragment ergänzt. Die so ver- 
vollständigte Inschrift?) stammt aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. 
und lautet nach der Wiedergabe des Corpus Inscriptionum 
Latinarum XIl, No. 361, S. 51): 


ı) Peiresc (1580-1637) geboren in Belgentier (Var.), gestorben in Aix, war 
ein berühmter weitgereister Altertumsforscher, auf seinen Reisen hatte er eine 
Menge Sammlungen aller Art angelegt. Scaliger, Pierre Bayle, Gassendi zählten 
zu seinen Freunden. Peiresce schrieb viel, veröffentlichte jedoch nichts. Auf 
116 Bände belaufen sich seine Manuseripte, die grösstenteils in der Bibliothek 
von Carpentras sich befinden. J. Marchand urteilt über deren Wert in der Grande 
Encyclopedie folgendermassen: Ce sont des documents inestimables pour Vhistoire 
litteraire et scientifique de 20 annees dw XVIIe siecle (vgl. Grande Eneyclopedie). 

2) Meyers Konversations-Lexikon entnehme ich, dass die Heilquellen von 
(Greoule kochsalzhaltige Schwefelquellen von 36° C. Temperatur sind und stark 
besucht werden. 

%) Die Inschrift findet sich ausserdem noch in den Oewvres comylötes 
(Bd. IIT, 245) von Bartolomeo Borghesi. Paris 1864 und schon 1828 im zweiten 
Band von Casp. Orellius Inseriptionum latinarum seleetarum unter No. 3421. 


16 Richard Schuster. 


FIL. FAVSTINA 

T. VITRASI. POLL; 
ONIS. COS. II. PRAE.. 
qv AEST. IMP. PONTIF 
procOS. ASIAE 

VXOR 

NYMPHIS 

GRISELICIS 


Aus dieser Inschrift geht soviel hervor, dass Griselicae 
kein Synonym von Nymphae ist, wie Spon meinte, sondern dass 
es sich um die Nymphen von Griselum handelt. Ob nun der 
Name Griselda mit dem Ortsnamen Griselum — Griselicus zu- 
sammenhängt, ist immerhin fraglich. Liesse sich durch Analogien 
nachweisen, dass von einer Herkunftsbezeichnung wie Gri- 
selica ein Name Griselda sich ableiten liesse, so wäre die Her- 
kunft des Namens auf französischem Gebiet zu suchen; dann 
wäre es auch nicht ganz aussichtslos und unwahrscheinlich an- 
zunehmen, dass auch der Ursprung der Griseldisfabel auf 
französischen Boden fällt. | 

Für die Verbreitung der Griselidisnovelle in. Frankreich 
war, wie schon bemerkt, allein Petrarka massgebend. Widmann 
vermutet als Träger des mittelalterlichen Geistes, der in der 
Griselidis-Erzählung den Typus der gehorsamen Ehefrau auf die 
Spitze getrieben zeigt und dem die Erzählung ihren Ursprung 
verdankt, einen Geistlichen. Ganz sicher aber sind manche der 
französischen Übersetzer der Petrarkaschen Griselidis Geistliche 
gewesen. Dies geht schon aus dem ganzen lehrhaften, da und 
dort noch religiöser als bei Petrarka gewendeten Charakter 
dieser Übersetzungen hervor. 

Von den acht Handschriften der Nationalbibliothek und den 
drei der Bibliotheque de l’Arsenal, die Übersetzungen der Petrar- 


kaschen Griselidis darstellen, ist die Handschrift Nr. 24398 der 


Nationalbibliothek als einzige von den elf, die ich durchgesehen, 
von einem Prolog begleitet. Ich gebe die Stellen des Prologs’) 
wieder, aus denen hervorgeht, dass der Verfasser ein Geistlicher 


ı) Bei der Wiedergabe der Handschriften und der Drucke führe ich dureh- 
weg die Worttreunung durch und setze die Accente auf die auslautenden e, 


Km: 


Griselidis in der französischen Literatur. 17 


war und das Werk des „frommen und gelehrten“ Katholiken und 
berühmten Dichters Petrarka aus dem Lateinischen ins Franzö- 
sische für die des Lateinischen Unkundigen übersetzt hat. In 
diesem Vorwort findet auch die religiös und lehrhaft gewendete 
Tendenz des Uebersetzers lebhaften Ausdruck: 

„Cette histoire gracieuse et piteuse de la marquise de 
Saluce laquelle pour sa grant difficult€ et aussi comme im- 
possibilite de la vertu d’une femme a aucuns lisans par auenture 
pourroit sambler estre une chose fainte ou histoire coutrouee, 
dont il est assauoir que le poure pelerin aucteur de cestui 
liure trouua ceste histoire en lombardie entre les gracieuses 
escripturez du vaillant et solempnel Docteur poete maistre 
Franchois patrac, (!) jadis son especial amy, lequel Docteur 
poete en sa science fu reputt€ a son temps le plus soufissant 
poete qui depuis cent ans ait este en la crestiente, et oultre plus 
il fu tres devot et vray catholique qui n’est pas ainsi comunal- 
ment des poetes docteurs, si come il appert par les beaus 
liures plusieurs qu’il fist lesquelz sont raemplis de tres grant 
deuocion et de vraye doctrine catholique, pour laquelle chose 
le poure pelerin a donn& plus grande foy ä l’istoire souuente 
foys repetee escripte et translat&e par cel Docteur deuot catho- 
lique, et est la ditte histoire publique et noctoire in lombardie 
et par especial en piemont ou marquise de saluce est reputde 
pour vraye et est escripte histoire par le dit docteur maist® 
Franchois patrac en latin hault et poetique et fort a entendre 
a ceuls qui n’ont pas a coustume a lire tel latin, et toutes foys 
le dit poure pelerin la translata de latin en francois rudement 
et grossement en substance et pour ce que cestui liure traitte 
de la vertu du sacrement de mariage et la garda pour un 
miroir des dames mariees, le dit poure pelerin en la fin de 
son liure leur presente ceste piteuse vertueuse et merveil- 
leuse histoire en priant Dieu que celle leur vaille, si en 
prenderont le grain et en laisseront la paille.“ 

Die Hs. No. 24394, von der im Vorstehenden der Schluss 
des Prologs angeführt wurde, stammt aus dem 15. Jahrhundert, 
ist, abgesehen von manchen undeutlichen Stellen, gut geschrie- 
ben, ın 8 Kapitel eingeteilt, deren jedes durch einen schön ver- 
zierten Buchstaben gekennzeichnet ist. 

Ausser der schon genannten Hs. 24 394 befinden sich noch 
folgende Handschriften in der Nationalbibliothek: 

2 


18 Richard Schuster. 


Nr. 1505. Le Romant de Griselidis marquise de Saluce, 
beginnt auf fol. 126 der Hs. also: 

„A lexemple des femmes marides et autres a marier ay 
icy mis selon mon petit engin et entendement du latin en 
frangois“ und schliesst auf fol. 136 mit den Worten: „Et luy 
succeda son filz et vesquit apres luy comme son heritier.“ 


Eine Kapiteleinteilung fehlt in dieser Hs. 

No. 1834 (fol. 145 bis fol. 151) stammt ebenfalls aus dem 
15. Jahrhundert, ist eine freie Übersetzung Petrarkas und weist 
manche nicht ganz unwesentliche Auslassungen auf. Sie ist eng 
geschrieben und ganz und gar schmucklos. Diese Histoire de 
Griselidis beginnt mit den Worten: „Aux pies des mons, en 
une coste d’Italie“* und endigt: „d’une fraile feme dont ıl a dte 
peu de semblables.“ 

No. 1881 rührt aus dem 16. Jahrhundert her und ist, ebenfalls 
Histoire de Griselidis betitelt, sowohl im Anfang wie am Schluss 
von der vorigen verschieden: 

„C’est Cosme de Pymont en Lombardie, ainsi comme au 
pied de la grant montaingne qui divise France et Ytalie... .“ 
Der Schluss lautet: „... s’offrir pour son mortel mary. Amen.“ 


No. 2201 teilt mit den beiden eben genannten Handschriften 
die gleiche Überschrift. Sie stammt aus dem 15. Jahrhundert 
und enthält Zeichnungen, Vignetten und verzierte Buchstaben. 
Mit den Worten: 

„Es confines de Piemont en Lombardie, ainsy come au pie 

de la grant montaigne qui devise France et Italie“ beginnt sie 

und endigt: „.. .. sanz honneur et science souffiry pour 
son mortel mary.“ 

Die Hs. No. 12459 ist die künstlerisch vollendetste von 
allen, ausserordentlich sauber und schön geschrieben, und ent- 
hält sehr hübsche und gewandte Zeichnungen. 

Das erste Bild stellt einen Jagdzug dar, einen Hirsch ver- 
folgend. 

Das zweite weist die Gesandschaft der Vasallen an den 
Graien auf, der seine Getreuen im Freien empfängt. 

Das dritte zeigt uns das Häuschen des Janicola, das 
genau so gemalt ist wie ein deutsches Schilderhäuschen, 
der Graf stellt seine barfüssige Braut den Rittern und Edel- 
frauen vor, die bewundernd die Hände emporheben. Griselidis 


Griselidis in der französischen Literatur. 19 


hat langes, strohgelbes Haar und führt mit der rechten Hand den 
Besen. Ihr Vater sieht aus wie ein Mönch in einem grünen Kleid. 

Das vierte Bild stellt uns die Marquise dar, wie sie dem 
in einen roten Mantel gehüllten Diener ein in Linnen ge- 
wickeltes liebliches Kind übergibt, das dieser mit rauhem Griff 
gepackt hat. Der traurige Ausdruck auf Griseldens Gesicht, 
die wohl zum Zeichen der Trauer in ein graubraunes, langes 
Kleid gehüllt ist, ist sehr treffend gezeichnet. 

Das fünfte Bild zeigt dieselbe Gruppe zum andern Mal, 
nur scheint Griseldens Gesichtsausdruck dies Mal noch schmerz- 
licher zu sein. 

Das sechste führt Griselden vor, wie sie in ihrem ein- 
fachsten Kleidchen zu ihrem Vater in die heimatliche Hütte 
zurückkehrt, dieser streckt schon von weitem verlangend die 
Hände nach ihr aus 

Das siebente und letzte Bild stellt dar, wie der Graf 
Griselden wieder zu Ehren annimmt. 

Die Erzählung ist in sechs Kapitel mit entsprechenden 
Überschriften eingeteilt, die fünf ersten Kapitel sind mit je einem, 
das letzte mit zwei Bildern geschmückt. Die Hs. ist ebenfalls 
aus dem 15. Jahrhundert. 

In der Hs. No. 20042 fehlen die Überschriften, ebenso die 
Kapiteleinteilungen, sie ist schön geschrieben und weist kunst- 
volle, in allen Farben verzierte Buchstaben auf. Anfang und 
Ende des „Roman de Griselidis“ lauten: 


„Au pres des mons en un cost& d’Ytalie est la terre de 
Saluces qui jadis estoit moult peuplee,*..... „et que pour 
son mari mortel soufirit et endura cette pauvre femmelette.“ 


Die nächste Hs. No. 2443 (fol. 311 bis fol. 317) ist auch 
wieder ohne Kapiteleinteilung und weist schmucklose, einfache 
Schrift auf; sie ist gegen den Schluss hin unvollständig (cf. 
Brunet, Manuel du libraire Bd. IV, col. 569). 

No. 24868 (fol. 203 bis fol. 220) ist in zehn Kapitel geteilt, 
deren Überschriften mit roter Tinte geschrieben sind. Der 
Titel lautet: 


„L’istoirre du Mirouer des dames mariees, c’est a savoir 
de la haulte et merveilleuse vertu de pascience, obe- 
dience, vraye humilite et constance de Griselidis, marquise 
de Saluces.“ 


20 


Richard Schuster. 


Als Stilprobe möge eine Vergleichung des einzigen in der 
Nationalbibliothek vorhandenen Drucks!) mit der Hs. dienen. 


Ich wähle hiefür die Schilderung des Marquis. 


Hs. No. 24 8682) 


Le marquis estoit 
apell& gautier, sens 
per(t) dicelle con- 
Iree, 
les aultres marquis 


auquel tous 


dicelle viron, ba- 
rons chevaliers, 
bourgoys, escuiers, 
marchans et laboı- 
reurs naturellement 
obeissoient. Le dit 
gautier marquis de 
Saluce estoyt bel 
de corps, fort et le- 
gier, noble de cens 
(sens), riche d’au- 
oir et de grant sig- 
nourie,plaindetou- 
tesbonnes meurset 
parfaitement gar- 
nis de nature de 
fortune et de grace. 
Une chose avoit en 
lui, car il amoit fort 
solitude et..... 
et pou luy plot 
le lien de mariage 
vouloit 


et n’en 


oir parler. Toute 


Histoire?) 


50 Aussi comme au 
pie de grant mont 
Qui depart france 
et ytalie 

Ou siet la d’ce mar- 
quisie 

Dont marquis & 
seigneursanz per 
Estoit & se faisoit 
nommer 

55 Le dit gautier 
soubz qui estoient 
Gouuernez et obeis- 
soient 

De droit tous les 
autres marquis 
Barons et cheva- 
liers de pris 
Escuiers bourgoiz 
& marchans 

60 Tous lui furent 
obeissans 

Si estoit cil mar- 
quis gautier 

Beau de corps fort 
preu & legier 
Noble de sanc et 
de lignie 

D’auoir Riche et de 
seigneurie 

65 Debonnes meurs 
parfaitement 
Enrichi naturelle- 
ment 

Desbiensde nature 
et de grace 


Petrarca 


Inter caetera ad 
radicem Vesuli, 
terra Salutiarum, 
vicis et castellis 
salis frequens, Mar- 
chionum arbitrio 
nobilium, quorun- 
dam regitur viro- 
rum, quorum unus 
primusqueomnium 
et maximus fuisse 
traditur Gualtherus 
quidam ad quem 
familiae ac terra- 
rum omnium regi- 
men pertineret, et 
hic quidem forma 
virens atque aetate, 
nec minus moribus 
quam sanguine no- 
bilis, etad summam 
omniumexpartevir 
insignis, nisi quod 
praesenti sua sorte 
contentus, incurio- 
sissimus futurorum 
erat.Itaque venatui 
aucupioque deditus, 
sic illis incubuerat 
ut alia pene cuncta 


Druck 


Aupied des mons, 
a ung coste& d’Italie 
oü est la terre de 
Saluces, laquelle 
estoit moult peu- 
plee de bonnes 
villes et chäteaux, 
en laquelle avoit 
plusieurs grands 
seigneurs et gen- 
tilz hommies des- 
quels le premier et 
le plus grant entre 
eulx estoit appele 
Gaultier, 


principalement ap- 


auquel 


partenoit le gou- 
vernement et do- 

d’icelle 
Et estoit 
icelluy jeusne seig- 


mination 
terre 


neur moult noble 
de lignaige et plus 
asses en bonnes 
meurs; et en som- 
me, noble en toutes 
manieres.Fors tant, 
qu’il ne vouloit que 
et es 
et passer 


soy jouer 
battre, 


1) Der Druck, von Köhler an zweiter Stelle auf S. 510 erwähnt, stammt aus 
dem 15. Jahrhundert und ist betitelt: „Le histoire et pacience de yriselidis.“ 

2) Aus Abkürzungen aufgelöste oder aus unleserlichen Buchstaben ergänzte Buch- 
staben sind durch Cursivdruck bezeichnet. | 

*) Der Text ist hier wie auf S..24 abgedruckt nach (rroeneveldls Angabe. 


Hs. No. 24868 


sa vie s’etoit de- 
duit en boys en 
riviere en chiens 
en oiseaux et du 
gouvernement de 
sa seigneurie pou 
se meloit pour la- 


quelle chose une | 


sassem- 


blerent. 


Griselidis in der französischen Literatur. 


Histoire. 


Si nest pas mestier 
que jen face 
Quant a present 
plus long deuis 

70 Mais il avoit son 
deduit mis 

Seul en chacier et 
en voler 
Seulement se voult 
deporter 

En oyseauz et en 
chiens chassans 
La Riviere li fu 
plaisans 

75 Et le bois au de- 
duit des chiens 
Mais point ne lui 
plot li liens 

Ne li estas de ma- 
riaige 

Souffrirnen vouloit 
le seruaige 

Ne nen vouloit oyr 
. parler 

80 Etpouleveiston 
meller 

De gouuerner sa 
seignourie 

Que deduit deme- 
noit sa vie 

Par champs par 
boiz& parRiuierez 
A son gre et main- 
tes manieres 

85 Mais ses barons 
tant lenorterent 
Par leur senz qua 
ce lamenerent 
Quil saccorda a 
femme auoir 
Affin de faire son 
deuoir 

Et que dele il eust 
lignie 

90 Pour maintenir 
sa seignourie. 


Petrarca 


negligeret‚quodque 
in primis aegre po- 
puliferebant, ab ip- 
sis quoque coniu- 
gij consilijs abhor- 
reret.Idaliquamdiu 
taciti cum _ tulis- 
sent, tandem cater- 
vatim illum adeunt, 
quorum unus cui 
vel auctoritas ma- 
ior erat, vel facun- 
dia maiorque cum 
suo duce familia- 


ritas. 


21 
Druck 


temps; il ne con- 
sideroit point au 
temps et es choses 
advenir, mais seu- 
lement fors que ä 
chasser et a voller; 
et ne pregnoit ä 
aultre chose son 
desduit et plaisir, 
et de toutes aultres 
peu Jluy 
chailloit; et mes- 


choses 


mement ne se vou- 
loit point marier. 
Dont sus toutes les 
aultres choses le 
peuple estoit cour- 
rouce, en tant que 
une foys tous en- 
semble allerent par- 
ler A luy, et esleu- 
rent P’ung d’eulx, 
de 
grant auctorite et 


lequel estoit, 


prive du dict seig- 
neur. 


22 Richard Schuster. 


Aus der Vergleichung sehen wir, dass die Hs. und die Histoire 
vielfach sehr enge Berührungen aufweisen, es ist jedoch der Zu- 
sammenhang zwischen beiden nur indirekt, denn die Histoire wie 
die Hs. gehen ja auf die gleiche Quelle, auf Pertrarka, zurück. Wir 
erkennen ferner, dass sowohl der Druck wie die Hs. freie Über- 
setzungen der Petrarkaschen Griselidisbearbeitung sind, dass aber, 
wenn man so sagen darf, der Druck philologisch genauer ist als 
die Hs. Die Abweichungen dieser Hs. von dem Druck in sprach- 
licher und stilistischer Beziehung sind im Vergleich mit den andern 
Handschriften am stärksten ausgeprägt; ferner zeigt sie starke 
Abweichungen von dem von Köhler an erster Stelle genannten 
Druck!) (S. 509). Die Hs. No. 24808 ist also eine dritte Über- 
setzung neben den zwei verschiedenen Übersetzungen der Petrar- 

kaschen Griselidis, welche als Volksbücher gedruckt worden sind. 
Dann wäre noch über drei Handschriften zu berichten, die 
"In der Bibliotheque de l’Arsenal von der Griselidiserzählung 
vorhanden sind. 

Am Kopf der Hs. No. 2076 auf fol. 225 lesen wir: 

„Du commandement et soubz la correction de mon 
maistre et a l’exemplaire des fames marides et toutes autres, 
Jay mis, selon mon advis et entendment de latin en francoys 
l’istoire, qui cy apres s’ensuyt, de la constance et patience 
merveilleuse d’une feme, laquelle histoire translata de lombart 
en latin un tres vaillant poete qui fut appel& Francois Petrarch, 
dont Dieu ait l’äme.“ 

Anfang und Schluss der Hs. bieten nichts Besonderes. 
Doch ist diese schlecht erhaltene, wurmzerfressene, schief linierte 
Hs. die einzige, die eine bestimmte Angabe über die Zeit ihres 
Entstehens bietet. Sie ist 1402 oder früher geschrieben, wie aus 
folgender Notiz auf der inneren Seite des Einbands hervorgeht: 

„Ego Henricus de Breteneriis nosco et confesso 
vendisse librum istum nomine magistri Cautus, et fuit venditus 
die Il. martis post Epyphaniam: praesens (sic) Willermum de 
Puecain et Joannem Bouruety. Scriptum per manum meam, 
anno Domini Mille CC CC° secundo. 

Dem Aussehen nach zu urteilen, dürfte diese von Heinricus 
de Breteneriis verkaufte Hs. die älteste aller vorliegenden sein; 
sie wäre also spätestens 7 Jahre nach der Histoire entstanden. 


1) Dieser Druck ist in Paris nicht mehr vorhanden, in Deutschland befindet 
er sich auf der Grossherzoylichen Bibliothek zu Gotha (s. S. 28 Anm.t). 


Griselidis in der französischen Literatur. 23 


No. 2687 ist die schönste und best erhaltene von den drei 
Handschriften der Arsenalbibliothek, sie ist auch aus dem 
15. Jahrhundert, in 10 Kapitel eingeteilt und mit goldenen und 
farbigen Initialen geziert. Fol. 102.: 

„Cy commence l’istoire du mirouer des dames marides, 
c’est assavoir de la haulte et merveilleuse vertu de pacience, 
obedience, vraie humilite et constance de Griselidis, marquise 
de Saluces.“ Anfang und Ende lauten: „Es confines de pie- 
mont, en Lombardie....“ — „....pour son mortel mari.“ 

Die letzte Hs. No. 4655 ist wieder sehr schlecht geschrie- 
ben, ohne Kapiteleinteilung, zeigt weder bunte noch grosse An- 
fangsbuchstaben, stellenweise ist sie direkt unleserlich. Nach 
den Schlussworten der Erzählung erhalten wir Auskunft über 
den Eigentümer des Buches, Gauvain Quieret: 

„Ce livre ycy appartient a mon tres honoure et tres 
redoubte seigneur messire Gauvain Quieret, chevalier, seig- 
neur de Daustreville et de Warquin en partie.“ 

Der Schluss der Erzählung weicht von der Petrarkaschen 
Fassung insofern ab, als die Verheiratung der beiden der Ehe 
Griseldens entsprossenen Kinder erzählt wird. _ 

Die zusammenfassende Betrachtung der Handschriften er- 
gibt, dass die Weiterverbreiter der Griselidiserzählung in Frank- 
reich uns weder ihren Stand noch ihren Namen überliefert haben, 
doch dürften es in der Hauptsache Geistliche gewesen sein. 
Der Prolog der Hs. No. 24394 erweist, dass ein Geistlicher ihr 
Übersetzer ist. Die drei Handschriften der Arsenalbibliothek 
und die sieben der Nationalbibliothek stammen aus dem 15. Jahr- 
hundert, nur die Hs. No. 1881 rührt aus dem 16. Jahrhundert her. 
Die schönste und deutlichste, selbst künstlerisch ausgeführte 
Hs. befindet sich auf der Nationalbibliothek unter Nr. 12459 

Älter noch als alle diese Handschriften ist die dramatisierte 
Histoire der Griselidis vom Jahre 1395.') Groeneveld hat in 
15 Punkten die Übereinstimmung zwischen der Aistoire und 
Petrarkas Arbeit nachgewiesen, und nur dann und wann, viel- 
leicht aus Raumrücksichten, ein paar Worte zur deutlicheren 
Illustrierung angeführt. Klarer und deutlicher wird die Ab- 
hängigkeit der /listoire von der lateinischen Vorlage werden 
durch Gegenüberstellung eines grösseren Teils beider Texte. 


1) Die ausführlichste Inhaltsangabe befindet sich in dem Theätre serieuxr 
du moyen äge von Euy. Lintilhac im 1. Bd. (Paris 1901) auf S. 277— 293. 


24 


Richard Schuster. 


Abnahme des Gehorsamsversprechens. 


Histoire 


938 A ton pere et a moy 
agree 

Que soies ma femme es- 
pousee 

Et croy que d’accort en 
seras 

Ne pas ne me Refuseras 
Ainsi com je le pense 
et croy 

M’espeuse vueil faire de 
| toy 

Maiz auant vueil que 
facons clere 

45 Une chose deuant ton 
pere 

Que ou cas que je te 
prendray 

A femme et espouseray 
Que jentens faire de 
present 
par droit 
conuenant 
Se de ta franche voulente 
Le corage as entalente 


Sauoir vueil 


Et vuelz encliner et 
soubzmettre 

A ma voulente sanz | 
demettre 


Par telmaniere que de toy 
55 Et de ta personne par 
’ moy 
Et de ce qui te touchera 
Soit fait tout ce qui me 
plaira 
Repugnance ou 
contredit 
En fait enpensee ouendit 
60 Nen signe en aucume 
maniere 
Sauoir vueil ta pensee 
entiere 

Sur ce si soiez auisde 
Car il me plaist que 
deuisee 
Soitlachosep’nt ton pere 


Sanz 


Petrarca 


Et patri tuo placet, in- 
quit, et mihi ut uxor mea 
sis. Credo id ipsum tibi 
placeat; sed habeo ex te 
quaerere, ubi hoc perac- 
tum fuerit quod mox erit. 
An volenti animo parata 
sis, ut de omnibus tecum 
mihi conveniat, ita ut in 
nulla unquam re a mea 
voluntate dissentias, et 
quidquid tecum agere 
voluero, sine ulla frontis 
aut verbi repugnantia, te 
ex animo volente mihi 
liceat. Ad haec illa mi- 
raculo rei tremens: 


Druck!) 


Griselidis, dist-il, il plaist 
a ton pere et a moy que 
tu soyes ma femme, et 
je croy qıil te plaist 
aussi; mais je t'ay a de- 
mander et vueil savoir 
de toy se de bon cueur 
et bon vouloir tu es 
preste et le veulx; mais 
en quelque maniere que 
ce soit, tu me prometz 
que tu ne contrediras 
a ma voulente, et que 
tu veuilles et te plaise, 
quant qu’il me plaira & 
faire ne & dire. Et elle, 
moult esbahye, toute 
tremblant, respondit: 


ı) Es ist der auf Seite 20 in der Anm. erwähnte Druck. 


Griselidis in der französischen Literatur. 


Histoire 


65 Sire destre t’espeuse 
chiere 

Non mie ta poure me- 
schine 

Tant seulement ne sui 
pas digne 

Maiz puisque ta bonte 
le vuelt 

Et fortune ne le desuuelt 
70 Ains doucement le me 
presente 

Jamais pour dolour que 
je sente 

Ne diray ne demanderay 
Ne feray ne ne penseray 
Chose que jepuissesauoir 
75 Qui soit encontre ton 


vouloir 
Ne jamaiz Rien ne me 
feroies 
Non pas se morir me 
faisoies 
Que je ne souffre vou- 
lentiers 
Et telz est mes vouloirs 
entiers 
80 Ja par moy nen sera 
menti. 


Griseldis. 


Petrarca 


Ego mi domine, inquit, 
tanto honore me indig- 
nam scio; at si voluntas 
tua, sique sors mea est, 
nil ego unquam sciens, 
nedum faciam, sed etiam 
cogitabo, quodcontraani- 
mum tuum sit, nec tu 
aliquid facies, et si me 
mori iusseris, quod mo- 
leste feram. 


25 


Druck 


Monseigneur, dist-elle, je 
say certainement que je 
ne suis pas digne ne 
suffisante de si grant 
honneur recevoir comme 
vous me pre&sentez, mais 
toutes foys, puisque ceste 
chose vous plaist et est 
votre voulente et mon 
heur, jamais rien ne feray 
ne ne penseray quelcon- 
que chose ä mon pouvoir 
qui soit contre vostre 
voulente ou plaisir, ne 
me ferez jamais chose, 
et me fissiez-vous mourir 
que je ne le souffre pa- 
ciemment. 


Diese Gegenüberstellung beweist zur Genüge, wie weit 


der unbekannte Dichter der /iszoire die Hauptgedanken Petrarka 
entlehnt hat, wenn er ‘auch im Einzelnen die Situationen mit 
nebensächlichen Zügen weiter ausmalt und erweitert Der 
„erbaulich-rührsame Dunstkreis, in den Petrarka die Geschichte 
versetzt“ (Widmann) wird auch in der /istoire ebenso wie dort in 
der Zeichnung der Charaktere sichtbar. Selbständige Zutaten sind 
nirgends festzustellen. Griselidis erscheint wie bei Petrarka in 
zu ideales Licht gerückt, wie bei diesem enthält sie sich in der 
Histoire jeder Schmerzensäusserung bei der Wegnahme der 
Kinder; menschlicher und als Mutter wahrscheinlicher und 
natürlicher stellt sie uns bei diesem Akt Boccaccio dar, hier 
hält sie ihre Klagen nicht zurück. Das Gehorsamsversprechen, 


26 ° Richard Schuster. 


das der Markgraf von Griselidis verlangt, ist, trotzdem dieser 
weit humaner als bei Boccaccio gezeichnet ist, doch in stärkeren 
Ausdrücken gehalten. Bemerkenswert ist, dass das „sine ulla 
frontis aut verbi repugnantia“ in der poetischen Bearbeitung 
genauer übersetzt ist als in der sonst natürlicherweise wörtlicheren 
prosaischen. 

Es liegt nun sehr nahe, die verschiedenen französischen 
Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts mit einander zu vergleichen. 

Köhler weist zwei verschiedene Übersetzungen der Pe- 
trarkaschen Griselidis nach, welche als Volksbücher gedruckt 
worden sind. Die eine Übersetzung ist in drei Drucken vor- 
handen. Als einziges Exemplar davon in Deutschland findet 
sich auf der Universitätsbibliothek Jena unter der Signatur Op 
th IV, g. 17 der erste Druck!) mit dem Titel: „La pacience de 
griselidis, marquise de saluces“ (zwischen 1499 und 1504 in 
Paris gedruckt). Das Buch enthält 223 Folioseiten und 13 Er- 
zählungen, die siebente ist die Erzählung der Griselidis (fol. 107 
bis 122). Nicht uninteressant dürfte wenigstens eine Anführung 
der Titel der in diesem alten französischen Volksbuch ent- 
haltenen Erzählungen sein. 


Il. La confession de frere Olivier Maillard. 
Il. Conseil pourfitable contre les ennuys et tribulations 
du monde, 

III. Le purgatoire Saint Patrice. 

IV. Les quinze ioyes de mariage. 

V. La vie de Robert le Diable. 

VI. Les Souhays des hommes. 

VII. La pacience de Griselidis, marquise de Saluze. 
VII. Le Cordial. u 

IX. La vie Saint Jehan Baptiste 

X. La doctrine du pere au filz. 

XI. Les demandes ioyeuses pour rire. 

XI. Paris et Vienne. 
XII. L’ospital damour. 


J, hat Kapitelüberschriften, jedem Kapitel ist ein Holzschnitt 
beigefügt; doch ist die Überschrift nicht merklich getrennt vom 
Text, nur durch den Holzschnitt ist jedesmal hervorgehoben, 


ı) Für diesen Druck führe ich die Abkürzung „J,“ ein. 


Griselidis in der französischen Literatur. 27 


dlass ein neuer Abschnitt beginnt; beim ersten Kapitel steht an 
Stelle der Überschrift der folgende Prolog: 


„Pour exemple et rememoration des femmes mariees et 
de toutes aultres generallment selon la rudit€E de mon petit 
entendement pour scavoir explaner langaige plaisant comme 
scavent aorner et exposer les souverains orateurs poetes 
et excellens rethoriciens par quy ie humble et simple com- 
positeur supplie a ung chascun qui ce present traictE vouldra 
lire pour prendre exemple .ou recreation qu’il leur plaise auoir 
agreable l’histoire exemplaire que j’ay a ma possibilite trans- 
late de latin en langaige francoys comme cy apres s’ensuyt. 
En laquelle hystoire est contenue par escript la vertueuse 
et merveilleuse sapience d’une femme qui iadis fut nommee 
Griselidis fille d’ung poure homme rustique appell& Janicole 
demourant au pays de saluces. Et premierement du pays 
et comment le marquis de saluces desiroit passer son ieune 
aage sans auoir voulent€E de soy marier. Et comment le dit 
marquis fut prie et requis d’aucuns de ses gentilz hommes 
familiers qu’il luy pleust de soy marier pour le prouffit et 
utilitE du pays et de la responce quwil leur fist.“ 


Von der Disposition dieser Petrarkaübersetzung erhält man 
am besten ein Bild durch Anführen der Kapitelüberschriften: 


2. cap. Comment apres les preparations faictes le dit 
marquis se disposa pour venir demander a feme et 
espouse Griselidis fille du poure homme ianicole. 

3. cap. Comment le marquis et Griselidis furent espous&s 
ensemble. 

4. cap. Comment griselidis fut esprouude et temptee du 
marquis. 

5. cap. Comment le marquis envoya querir sa fille par 
ung sergent et comment il la fist envoyer a Boulogne la 
grasse a sa seur pour la gouverner et endoctriner comme 
il appartient aux enfans des grans seigneurs. 

6. cap. Comment derechief le marquis de saluces veult 
tempter sa femme griselidis et luy oster son filz, et de la 
franche pacience qu’elle eut en son adversite. 

7. cap. Comment le marquis de saluces derechief envoya 
son sergent loyal a la marquise Griselidis pur luy oster 
son filz comıne il auoit fait de sa fille. 


28 Richard Schuster. 


8. cap. Comment puis apres le marquis dist a son espouse 
griselidis qu’il vouloit prendre une aultre femme 
que elle, 

9. cap. Comment griselidis fut deuestue de tous les veste- 
mens et comment elle rendit au marquis tous les ioyaulx 
excepte sa chemise. 

I0. cap. Comment le marquis envoya querir griselidis pour 
servir a la solempnite ou il declaira son intention a son 
espouse griselidis et ce qu’il fut fait a la dicte solemnite. 


Am Schlusse lesen wir noch: 


„Imprim& a paris par Jehan treperel demourant en la 
rue saint iaques a l’enseigne saint laurens pres saint yves.“ 


Mit dem eben besprochenen Druck stimmt inhaltlich wört- 
lich überein die am 24. April 1522 in Paris gedruckte Erzäh- 
lung:') „La patience griselidis marquise de saluces.“ 

Äusserlich sind einige Unterschiede zwischen beiden Drucken 
hervorzuheben. Einmal befindet sich im Druck von 1522 nur 
die Erzählung von Griselidis, andere Erzählungen fehlen, ferner 
ist der Druck in G im Gegensatz zu dem vorhin besprochenen 
Buche sehr klein; die Holzschnitte zu Kapitel 5, 6, 8 und 10 
fehlen völlig bei.G, die Holzschnitte im 2., 3., 4., 7. und 9. Kapitel 
stimmen nicht überein mit denen in den gleichen Kapiteln bei ], 
Auf einige kleine sprachliche resp. orthographische Verschie- 
denheiten wäre dann noch hinzuweisen: G hat Zangaige, aucuns, 
chier, J, Zangage, aulcuns, cher. 

Auf denselben Übersetzer wie die in Jena und Gotha vor- 
handenen Drucke geht auch die folgende im Verlag von Benoist 
Rigaud in Lyon im Jahr 1577 erschienene Übersetzung der 
Petrarkaschen Griselidis zurück: 


„Histoire de la patience de Griselides fille d’un pauure homme 
rustic appell& Janicolle demourant au pais de Saluces etc.“.. .?) 


1) Dieser Druck ist in Deutschland nur auf der herzoglichen Bibliothek 
zu Gotha vorhanden. Abkürzung: @. 

Am Schluss des Büchleins lesen wir: Imprime a parıs le 24 iour d’avuril 
mil cing cent 22 par philippes le noir libraire et Vung des dewxc grans relieurs 
turez de Vumiversite de paris. Demourant en la grant rue saint twaques a V’enseigne 
de la rose blanche couronnee. 

?) Dieser Druck ist nur vorhanden auf der Stadtbibliothek Zürich unter 
der Signatur: XVIII. 176. 5. (Abkürzung: Z.) 


Griselidis in der französischen Literatur. 29 


Inhaltlich stimmt Z Wort für Wort mit G überein; jedoch 
zeigt Z moderneren weiteren Druck und umfasst 32 Seiten, 
während der Lenoirsche Druck (G) die Geschichte der Griselidis 
auf 18 Seiten zusammengedrängt hat. In dem Rigaudschen Druck 
erscheint die Griselidis in Gesellschaft folgender Erzählungen: 

I) Conqueste du grand Charlemaigne, Roy de France et 
des Espaignes: Avec les faicts et gestes des douze pairs 
de France, et du grand Fierabras, et le combat faict par 
luy contre le petit Olivier, qui le vainquit. 

2) Histoire des nobles prouesses et vaillances de Galien 
Restaure, fils du noble Olivier le marquis; et de Ja 
belle Jaqueline fille du roy Hugon empereur de Con- 
stantinople 

3) Histoire des gestes du preux et vaillant chevalier Bayard 
d’Auphinois. 1580. 

4) L’histoire terrible et merveilleuse de Robert le Diable, 
lequel apres fut nomme& I’homme Dieu. 

5) Griselidis. | 

6) Histoire admirable de Jeanne la Pucelle, native de 
Vaucouleur. 

Wieder auf der Uhniversitätsbibliothek Jena befindet sich 
unter der Signatur 4. A. 1. XII I(*) eine aus dem 15. Jahrhundert 
stammende Übersetzung der Petrarkaschen Griselidis, die auch 
im Wortschatz und in den Satzwendungen von den drei bis 
jetzt besprochenen ziemlich verschieden ist.!) J, Z und G 
sind verschiedene Drucke derselben Übersetzung. Auf der 
Pariser Nationalbibliothek findet sich nur der mit ]J, gleich- 
lautende Druck. Auch zeigen bei J, die zwölf Kapitelüber- 
schriften, die hier wie dort selbständige Zutaten des Übersetzers 
sind, dass der zweite Übersetzer die Kapitel nach völlig anderen 
Gesichtspunkten eingeteilt hat wie der erste. Hiedurch ist schon 
in der Hauptsache erwiesen, dass der zweite Übersetzer völlig 
unabhängig vom ersten seine Übersetzung anfertigte; die weiter 
unten zum Vergleich angefügten Textproben beider Übersetz- 
ungen veranschaulichen das Gesagte aufs Deutlichste. — 

Der Prolog bei Js beginnt also: | 

„Est le tres noble mireouer de vertu de pacience d’obe- 

dience de vray humilit€ et de constance. Auquel se doi- 

09 Abkürzung: Je. Le histoire et patience de Griselilis (vgl. 8.20 Anm.1). 
Druckort, Druckjahr sowie der Name des Druckers sind nicht überliefert. 


30 


Richard Schuster. 


bvent mirer toutes dames marides voulans et desirans faire 
leur devoir en mariage envers dieu et leurs maris pour 

. avoir l’amour de dieu et de leurs seigneurs et maris. Et pour 
avoir louenge et honneur de tout le monde et comme elles 
le doibvent faire et y sont tenues. En pregnant exemple a 
la tres noble dame de haulte et merveilleuse vertu la dame 
griselidis iadis marquise de saluces qui eut toutes les vertus 
dessus dictes avecques vraie amour chastet@ et perseverence 
a son seigneur de laquelle la propre histoire sensuyt.“ 


Ich begnüge mich mit der Aufführung der jeweiligen 
Kapitelüberschriften. 


1. 
2. 


3. 
4. 


oO Io Qu 


9, 
10. 
11. 
12. 


cap. (Vorstehender Prolog.) 

cap. La requeste que les barons et chevaliers firent 
a leur seigneur. 

cap. La responce du marquis A ses barons. 

cap. La premiere temptacion que le marquis fit ä 
griselidis. 


. cap. La responce de la dame a son seigneur. 

. cap. La responce de la dame au sergant. 

. cap. La seconde tentation de la dame. 

. cap. La responce de la dame & son seigneur, qui fust 


de merveilleuse vertu et pacience. 

cap. Latierce temptacion que le marquis fist a sa femme. 
cap. La responce de la dame a son seigneur. 

cap. La grant pacience et grant vertu et obedience. 
cap. La responce du marquis a sa femme presens 
ses barons. 


Als Textprobe der beiden Drucke J, und G möge die Bitte 
der Barone und Ritter an den Marquis, sich wieder zu ver- 
heiraten, dienen. Man wird sofort die Verschiedenheit im Stil 
und in der Satzkonstruktion der beiden Übersetzungen erkennen. 


Griselidis in der französischen Literatur. 31 


G (Lenoir) 


Ton humanite sire mar- 
quis nous donne hardy- 
ment:pourcequebesoing 
nous est de par tous 
subiectz et hommes non 
pas que j’aye aucune sin- 
gularit@ en ceste chose: 
fors qu’entre les aultres 
tu m’as chier de ta grace 
comme aultrefoys ie t’ay 
esprouve. Ft comme il 
soit ainsi que tous tes 
faitz me plaisent et tou- 
iours nous ont pleu si que 
noussommes heureux que 
tauons a seigneur, mais 
une chose est laquelle si 
tu nous veulx accorder 
nous serons. se nous 
semble, plus aises de tous 
noz voisins. Cest assavoir 
que tu te veuilles marier 
sans plus attendre, car le 
temps se passe et s’en 
va. Et iacoit ce que tu 
soyes ieune et en fleur 
de ieunesse tu envieillis 
sans dire mot et est la 
mortprochaineatonaage, 
ne nul ne luy eschappe, 
mais tout ainsi fault 
mourir lung 
’aultre,etnesceton quant 
ne comment. Or doncques 
recois et accepte les 
humbles suplications et 
prieres et requestes de 
ceulx charger de toy 
querir femme et nous la 
te querrons telle que elle 
sera digne de toy avoir 
et de si bon et de si grant 
lieu que par raison devras 
esperer tous biens d’elle. 
Orten delivre donc, nous 
ten prions de ton grand 


comme 


Petrarca. 


Tua, inquit, humanitas 
optime Marchio, hanc 
nobis praestat audaciam 
ut et tecum singuli quo- 
tiens res exposcit devota 
fiducia colloquamur, et 
nunc omnium tacitas vo- 
luntates ‚me a vox tuis 
auribusinvehat, non quod 
singulare aliquid habeam, 
ad hanc rem, nisi quod 
tu me inter alios charum 
tibi multis indicijs com- 
probasti. Cum merito 
igitur tua nobis omnia 
placeant semperque pla- 
cuerint, ut foelices nos 
tali domino iudicemus 
unum est, quod si a te 
impetrari sinis, teque no- 
bis exorabilem praebes, 
plane foelicissimi finiti- 
morum omnium futuri 
sumus, ut coniugio, scili- 
cet animum applices, col- 
lumquennonliberummodo 
sed imperiosum legitimo 
subijeias iugo, idque 
quamprimum facias, vo- 
lant enim dies rapidi, et 
quamquam florida sis 
aetate, continue tamen 
hunc florem, tacita senec- 
tus insequitur morsque 
ipsa omni proxima est 
aetati,nulli muneris huius 
immunitas datur, aeque 
omnibus moriendum est, 
utque id certum, sic illud- 
ambiguum quando eve- 
niat. Suscipe igitur ora- 
mus eorum preces; qui 
nullum tuum imperium 
recusarent, quaerendae 
autem coniugis studium 
noPis lingue, talem enim 


J 


Sire Marquis, ton hu- 
manite nous donne har- 
diesse de parler ä& toi 
feablement ethardiement, 
ettevueil dire et requerir 
de par tous les hommes 
et subjectz. non pas que 
jaye aulcune singularite 
a ceste chose, fors que 
entre les aultres tu m’as 
chier de ta gräce. Comme 
en maintes manitres je 
’ay esprouv&, et comme 
doncquesetäbonne cause 
tu nous plais, et as tou- 
jours pleu; si que nous 
tenons pour moult heu- 
reux de ce que nous 
t’avons ä seigneur. Mais 
d’une chose te prions 
laquelle chose se te nous 
veulx accorder et oc- 
troyer, nous serons, se 
noussemble,lesplusaises 
de touz nos voisins. C’est 
assavoirque tu teveuilles 
marier sans plusattendre, 
car le temps passe et 
s’en va; et jasoit ce que 
tu soyes jeune et en fleur 
de jeunesse la mort suit 
etchasse, etest prochaine 
a toutes gens ne ou ne 
luy :peult eschapper; et 
aussi bien faut-il mourir 
ung comme l’aultre; et 
ne scet homme quant ne 
comment. Or doncques 
recoy etaccepte noz prie- 
res, car nous t’en prions 
et supplions, et t’en fai- 
sons prieres et requestes 
de par ceulx que nul de 
tes commandemens ne 
refuseroient, que tu nous 
veuilles charger de toy 


32 


G (Lenoir) 


prouffit et honneur, car 
tu scez se tu alloyes de 
vie a trespas nous de- 
mourrions sans seigneur 
dont grant esclandre et 
dommaige nous en pour- 
roit ensuyvre et si ne 
seroyes mye tant a louer 
apres ta mort. 


Richard Schuster. 


Petrarca 


tibi procurabimus, quae 
te merito digna sit, et 
tamclaris orta parentibus 
ut de ea spes optima sit 
habenda, libera tuos om- 
nes molesta sollicitudine 
Quaesumus ne si quid hu- 
manitas tibi forsan acci- 
deret, tu sine tuo succes- 
sore abeas, ipsi sine 
uotiuorectoreremaneant. 


J» 


querir feme, et now 
la te procurerons tell 
qu’elle sera digne de 
t’avoir, et de si bon 
de si grant lieu que par 
raison devras espe6rertout 
bien d’elle. Or, ten de- 
livre; carnous t’en prions 
de grant affection, affın 
que se tu mouroyes, nous 
ne demourissions sans 
seigneur et gouverneur. 


Beide Übersetzungen folgen ohne nennenswerte eigene 
Zutaten Satz für Satz Petrarca. Allgemein gilt für den Über- 
setzer von J,, dass er im Vergleich zu G Neigung zur stärkeren 
Hervorhebung der einzelnen Wortgruppen besitzt. Entweder 
sucht er eine verstärkende Partikel wie moulf einzuschieben, 
oder er wendet bei Verben gern zwei synonyme Ausdrücke an. 
Wenn in G z.B. impetrari mit accorder übersetzt wird, so wird 
in J, dieses Zeitwort mit accorder et octroyer wiedergegeben. 
An Einzelheiten sei noch auf kleine sprachliche Verschieden- 
heiten hingewiesen. G hat or, J], homme, J, übersetzt @ ceste 
 chose, G en cheste chose. )J, übersetzt volant emin dies mit car 
le temps passe, G verwendet hiefür das reflexive Verb se passer. 

Auf sämtliche französische Übertragungen von Petrarkas 
Text trifft das über dessen Griselidis gefällte Urteil Widmanns 
zu, der auf S. II schreibt: 


„Petrarkas Mythologie steht trotz mancher hübscher 
Einzelzüge an künstlerischem Wert hinter Boccaccios Novelle 
weit zurück; denn sie hat die Unnatur und Rohheit des 
Stoffs durch Ausführlichkeit und Aufdringlichkeit der Dar- 
stellung, falsche Idealisierung der Charaktere und moralische 
Rührseligkeit entschieden verschärft. Aber gerade diese 
Mängel bedeuten für eine didaktische Geschmacksrichtung 
ebenso viele Vorzüge: daher der grosse internationale Erfolg 
der Geschichte.“ 


Jedoch tritt in den französischen Volksbüchern, allerdings 
nicht so stark wie in den deutschen, die Eigenart der Über- 


| 
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Griselidis in der französischen Literatur. 33 


setzer in kleinen Abänderungen, Zusätzen und Weglassungen 
hervor. 

„G“ hat allem nach zu urteilen einen Geistlichen als Ver- 
fasser. Wenn irgend möglich, kommen in dieser Übersetzung 
Anrufungen an Gott vor; der Übersetzer geht darin weit über 
Petrarka hinaus. J, bleibt in dieser Beziehung eher hinter der 
lateinischen Vorlage zurück. Die religiös angehauchte Schluss- 
moral Petrarkas bringt G, während J, sie weglässt. Sie lautet: 


„Cest assauoir que ceste histoire a este descripte a la 
memoire des hommes et non tant seulement affin que les 
dames et matrones de nostre temps doiuent ensuiuir la pa- 
cience de ceste noble dame laquelle pacience semble estre 
impossible a porter. Mais a celle fin que les liseurs de ceste 
hystoire se doiuent bien eiforcer d’auoir loyault€ amour et 
constance enuers dieu ainsi que ceste noble dame fist enuers 
son mary combien que comme dit sainct Jacques l’apostre 

- dieu ne tempte pas les gens ainsi que fist le marquis de 
saluces a sa femme et espouse griselidis. Mais aulcuneffois 
dieu consent que nous ayons souuent des aduersitez, et 
maintes tribulations affin que par les tribulations continuelles 
nostre propre fragilit€E nous soit monstree et de tout bien 
congneue.‘“ 


Ueberhaupt ist die Übersetzung G viel weitschweifiger als 
J,, welch letztere manches Nebensächliche weglässt. ' ]J, hat z. B. 
nicht wie G den folgenden schon bei Petrarka religiös ge- 
wendeten. Satz übersetzt: 


P 


Quicquid in homine boni est, 
non ab alio quam a Deo est. Illi 
ergo et status et matrimonij mei 
sortes sperans de sua solita pietate 
commiserim, ipse mihi inveniet, 
quod quieti meae sit expediens 
ac saluti. 


G 


Touteffoys aulcun bien vient a 
’homme tout vient de dieu de 
Jessus et a luy ie recommande le 
fait de mon mariage touiours 
esperant en sa doulce beaute qui 
me octroye avecques mes amys 
telle chose avec laquelle ie puisse 
vivre en paix et en repos expediant 
mon salut. 


Auf die Übersetzung G geht das moderne Volksbuch zu- 
rück : „Le miroir de Dames ou la Patience de Griselidis, autrefois 


3 


34 Richard Schuster. 


marquise de Saluces, oü il est montre la vraie obeissance que 
les femmes vertueuses doivent & leurs maris.“ 

Diese Erzählung findet sich in der Histoire des livres po- 
pulaires von Ch.Nisard auf Seite 482— 493; ferner auf Seite 48—65 
in Jaques Loyseau Les fabliaux du moyen äge colliges, 
Paris 1848, Griselidis Ausser Griselidis finden sich bei Loyseau, 
der mir für meine Untersuchung vorgelegen hat, les Aventures 
de Tyl P’Espiegle und le Roman du Renard. 

Der Bearbeiter hat sich im Gang der Handlung ziemlich 
eng an die Übersetzung G angelehnt. Ein Beispiel aus der 
Beschreibung von Griseldens Fürsorge für den Vater wird das 
Gesagte deutlicher veranschaulichen: 


G. Miroir. 

Elle appareilloit les poures vian- Elle lui appretait son modeste 
des de fortune, et puis le couchait repas, le levait ou le couchait sur 
et le matin le levait: briefvement son lit, et lui rendait tous les ser- 
toute l’humanite que fille doit faire vices et tous les soins qu’une fille 
a pere tres doulcement elle luy doit ä son pere. 


faisoit. 


Der Bearbeiter hat natürlich den Text orthographisch und 
grammatisch erneuert, sonst aber bestehen die Änderungen, 
die er sich erlaubt, hauptsächlich in Weglassungen oder in 
wesentlicher Kürzung breit wiedergegebener Reden, die den 
Fortschritt der Erzählung aufhalten. Solche Änderungen, aus 
denen eine andere als Petrarkas Auffassung der Hauptcharaktere 
sich ergeben würde, kommen bei ihm nicht vor. Auch selbst- 
ständige kleinere Züge, wie sie sich in der deutschen Griselidis- 
übersetzung von Fiedler finden, fehlen in der französischen 
völlig. Wenn z.B. bei Fiedler Janicola bei der Heimkehr seiner 
verstossenen Tochter auf den Trug und die Untreue der grossen 
Herren schilt, so bewahrt dieser im Miroir völlig die Ruhe 
und schwingt sich sogar zu folgendem unwahrscheinlichen Ver- 
halten auf: 


„sans t@moigner ni couroux ni douleur, il remercia les 
dames et les chevaliers qui l’avaient accompagnee, et les 
exhorta ä bien aimer leur seigneur et & le servir foyalement.“ 


Der Papst ist in dem modernen Volksbuch völlig ausge- 
schaltet, während die alten Volksbücher berichten, der Marquis 


Griselidis in der französischen Literatur. 35 


habe vom Papste zur Verstossung seiner Gemahlin die nötige 
Erlaubnis erwirkt Im Miroir wird uns kurz und bündig berichtet: 


„A fit courir le bruit qu’il allait r&pudier sa femme pour 
en prendre une autre.“ 


Sind die Änderungen hinsichtlich des Inhalts ganz gering- 


fügiger Natur, so zeigen doch manche Stellen an, dass der 
Übersetzer über dem Stoffe stand und gesundes Gefühl nicht 
ganz verloren hatte. Bezeichnend hiefür sind die Reflexionen, 
die er bei den Griselden auferlegten Prüfungen anstellt. 


„Oh! Quelle douleur mortelle dut ressentir en ce moment: 
cette femme incomparable, quand, se rappelant qu’elle avait 
deja perdu sa fille, elle vit qu’on allait lui ravir encore ce 
fils, son unique esperance! Quelle est, je ne dis pas la 
mere tendre, mais me&me l’etrangere compatissante, qui, 
ä une telle sentence, eüt pu retenir ses larmes et ses cris?“ 


„Apres deux aussi terribles Epreuves, Gautier eüt bien 
dü se croire sür de sa femme et se dispenser de l’affliger 
davantage. Mais il est des coeurs soupgonneux que rien 
ne guerit, qui, lorsqu’ une fois ils ont commence, ne peuvent 
plus s’arreter, et pour lesquels la douleur des autres est 
un plaisiir Non seulement la Marquise paraissait oublier 
son double chagrin, mais, de jour en jour, Gautier la trou- 
vait plus soumise; et neanmoins il se proposait de la tour- 
menter encore.“ 


36 Richard Schuster. 


Eine kürzere prosaische Fassung der Griselidis findet sich 
in dem Werke von Olivier de la Marche (1426-1502): Le 
Parement et Triumphe des Dames d’honneur.!) 

Nach einem von mir auf der Nationalbibliothek vorge- 
nommenen Vergleich zwischen le Parement und La Source 
d’Honneur (Lyon 1531), bin ich zu dem Ergebnis gelangt, dass 
das zweite Werk nur eine Neubearbeitung des Triumphe des 
Dames ist, der einzige Unterschied besteht in der Umstellung 
der Kapitel. Von dem Werk Oliviers ist 1870 ein Neudruck 
erschienen, bei dem aber die lateinischen Anmerkungen des 
ersten Herausgebers von des Dichters Werken fehlen.?) 


Julie Kalbfleisch hat in einer Berner Dissertation vom 
Jahre 1901 den „Triumphe des Dames“ von Olivier de la Marche 
nach den Handschriften neu herausgegeben, sie weist auf S. XX 
nach, dass „wir es in den Prosastücken (also auch in dem von 
mir in Paris benützten Druck) mit einer mehr oder minder 
glücklichen Korrektur zu tun haben“ und die ursprüngliche 
Fassung nur in den Handschriften ist. Nachstehend folge ich 
ihrer Ausgabe (S. 31—36) bei meiner Besprechung. 
| Was den Inhalt anlangt, so ist die Griselidis des Olivier 
de la Marche von allen französischen Volksbüchern die freieste 
Bearbeitung der alten Erzählung, weniger religiös -und senti- 
mental gefärbt als die Griselidis Petrarkas. Man merkt: der 
glatten, flüssigen Darstellungsform den gewandten Erzähler ohne 
weiteres an. 

Die geographische Einieitung fehlt, die langen Reden der 
Vasallen an ihren Herrn, die Antwort des Marquis, die Rede 
und Antwort des Janicola sind nicht in direkter Rede angeführt, 
sondern in wenigen Worten wird deren Hauptinhalt erzählt. Die 
Reden des Marquis und die Antwort der Griselidis bei der 
Wegnahme der Kinder und bei ihrer Verstossung sind direkt, 


1) Köhler täuscht sich, wenn er auf 5.516 meint, im Magasin pittoresque 
1838, 356 f. finde sich eine Analyse dieses Werkes. Es ist dies nur eine Art 
kulturgeschichtlicher Aufsatz, der über das Aussehen und die Verwendung der in 
15. Jahrhundert üblichen Bekleidungsstücke handelt und zwar genau nach dem 
Werk Oliviers. 

?®) Exemplar des Neuwdrucks auf der Berliner Universitätsbibliothek. 


Griselidis in der französischen Literatur. 37 


aber.kurz und prägnant angeführt, die gegebenen Situationen 
und die Empfindungen der handelnden Personen werden wenig 
ausgemalt. | | 

Der Charakter des Marquis ist von Olivier weniger human 
gezeichnet als in den Petrarka folgenden alten Volksbüchern. 
Bei Olivier teilt der Marquis in rauhen Worten seiner Gemahlin 
mit, ihr Kind müsse auf Verlangen seiner Verwandten sterben. 


„Et par ung matin entra en la chambre de sa femme 
qui. gisoit en son lit, fist chacun partir de sa chambre et lui 
dist qu’elle ne fut que fille de Jehan Nicholle, povre fille et 
de petite extraction, et que les parens de lui, qui estoient 
princes et de grant lignaige, n’entendoyent point que la lignie 
venue de sy petit lieu a cause d’elle deust succeder a sy 
haulte signourie, et que en effect il vouloit celle leur fille 
faire morir pour complaire a ses parens. La dame lui 
respondit passiamment: „Monseigneur, le fruit est vostre; 
vostre gre soit le plaisir de dieu.“ | 


Auch sucht Olivier nicht psychologisch zu erklären, warum 
Wuistasse, marquis de Salise, seiner Frau all diese Prüfungen 
auferlegt; es ist ihm nicht darum zu tun, uns seine Handlungs- 
weise irgendwie verständlich zu machen. Er folgt im allgemeinen 
dem Gang der Handlung in der Petrarkaschen Griselidis, wenn 
er auch ausser dem nicht näher begründeten Prüfungsmotiv') 
noch eine einschneidende Änderung in der Richtung sich er- 
laubt, dass er von Griselidis kein Gehorsamsversprechen verlangt. 

Griselidis zeichnet sich wie bei Petrarka durch einen 
willenlosen, hingebenden Gehorsam aus, ohne dass wie bei 
diesem ihre Liebe hiefür als Erklärung diente, durch das Unter- 
drücken jeglicher Schmerzensäusserung erscheint sie hier eher 
als abstrakter Typus denn als ein Wesen von Fleisch und Blut. 
Mit richtigem Gefühl übergeht Olivier, dass Griselidis schon als 
Jungfrau einen virilis senilisque anımus besitzt, auch vertritt 
sie nicht wie eine geborene Regentin ihren abwesenden Gemahl 
in Regierungsgeschälten. 

Wenig Worte braucht Olivier, um sie uns vor der Hoch- 
zeit klar und anschaulich zu schildern. 


1) Le marquis qui fut homme soubtil et de fort couraige, praticqua pour 
executer son desir et voulut assayer la constance et obeijssance de sa femıne. 


38 Richard Schuster. 


„Ceste Griselidis estoit jeusne de quinze ans, belle, 
dilligente et de bonnes meurs, servoit son pere soigneusement, 
estoit humble et devotte et fort recommandee par renom 
en vertu.“ 


Bezeichnend ist auch, dass der Marquis nur bei Janicolle 
um Griselden anhält, sie wird überhaupt nicht gefragt. 


„Et tout droit vint descendre a l’ostel de Jehan Nicholle 
et requist au preudomme qu’i lui donnast sa fille en mariage. 
Le preudomme just tout honteulx, aussy fut la fille et tous 
ceulx qui la furent. Mais le marquis le volt avoir et la 
fiancha de main de prestre.“ 


Janicolle wird als gescheiter, wenn auch als armer Untertan 
geschildert. Da er ein kenntnisreicher Mann ist, sucht der 
Marquis gerne seine Gesellschaft auf. Er weiss von den Aben- 
teuern seiner Zeit und selbst von den Taten und Eroberungen 
der Vorgänger des Marquis viel zu berichten. 


„A quoy le Marquis Witasse prenoit grand recreation et 
plaisir.“ 

Bei diesen Besuchen hat er Griselidis kennen gelernt. 

An epischen Kleinigkeiten ist noch zu berichten, dass der 
Verfasser die beiden Kinder Griseldens Elizabeth und Jehan 
heisst und der Altersunterschied bei ihnen nur ein, nicht vier 
Jahre beträgt. Zur angeblichen Ermordung seiner Kinder be- 
dient er sich zweier varletz; Petrarka spricht nur von einem 
sergent. 

Auf 144 Zeilen ist die Erzählung Oliviers zusammengedrängt, 
jedes unnötige Detail ist vermieden, kein Vor- und Nachwort 
bringt eine Beurteilung des Inhalts, Schlag auf Schlag folgen 
sich in gedrängter Kürze die Ereignisse. Jegliche Schönfärberei 
und moralische Rührseligkeit fehlt und gereicht der Erzählung 
im Vergleich zu Petrarka zu grossem Vorzug. Inhaltlich viel- 
leicht Petrarka gleichwertig, ist Oliviers Griselidis formell in 
Bezug auf Anschaulichkeit, Kürze der Handlung und gewandte 
Darstellung der lateinischen Vorlage sicher überlegen. 


Griselidis in der französischen Literatur. 39 


ll. Verserzählungen. 


Die Griselidis hat in Frankreich zwei poetische Behand- 
lungen in epischer Form erfahren. 

Peraults Novelle!) in Versen: La Marquise de Saluses,, 
ou la patience de Griselidis erschien im Jahre 1691, als 
ihr Verfasser 63 Jahre alt war.?) 

Perault hat sich bei seinen 932 Versen keines bestimmten 
Versmasses bedient, doch bevorzugt er den Achtsilbner und 
den Alexandriner vor dem Zehnsilbner. 

Als Quellen dienten ihm das französische Volksbuch und 
Boccaccio; er hat seinen Stoff ziemlich frei behandelt. In einer 
langen Schilderung rühmt er die Vorzüge des Helden: seine 
schöne Gestalt, seine Schlachtenbegeisterung, seinen Sinn für 


1) Über diese Novelle hat Saint-Marc Girardin im vierten Band auf 
8.326 ff. seines Cours de literature dramatique gehandelt. Sehr ausführlich 
hat Westenholz darüber geschrieben in seinem Buche „Griselidis in der Literatur- 
geschichte.“ Nach einer ausführlichen Inhaltsangabe weist er nach, inwiefern 
Perrault seinen Stoff frei behandelte und welche wesentlichen Änderungen der 
Fabel er sich erlaubte. 

Theodor Pletscher widmet in seinem Buch „Die Märchen Charles Perrault’s“ 
(Berlin 1906) auch der Griselidis zwei Seiten. Neu ist in dieser Besprechung 
die Wiedergabe von Teilen einer gegen Perraulis Griselidis gerichteten scharfen 
Kritik, wie sie sich findet im BRecueil Moetjens 1694 in zwei Lettres de Monsieur** 
iı Mademoiselle*** sur les pieces de Griselidis & Peau d’Asne, de Mr. Perrault 
(s. Pletscher 8. 19). 


2) Elle parut a Paris en 1691, chez Jean Baptiste Coignard. L’auteur 
en avait fait une lecture dans une des seances publiques de ’ Academie francaise 
et, ü ce titre, elle fut imprimee dans le volume que cette compagnie publiait alors 
tous les ans (s. Walkenaer: Lettres sur les Contes de Fees attribues a Perrault, 
Paris 1826, p. 13). 


40 Richard Schuster. 


Kunst, seinen praktischen Blick in Regierungsgeschäften, seine 
landesväterliche Fürsorge. Schade, dass der Fürst ein solcher 
Weiberhasser ist. 


Ce temperament heroique 

Fut obscurci d’une sompre vapeur, 

Qui, chagrine et melancolique, 

Lui faisait voir dans le fond de son coeur 
Tout le beau sexe infidele et trompeur. 


Kein Wunder, dass die Gesandten, die kommen, ihn zu 
einer Heirat zu bewegen, eine Fehlbitte tun, in mehr als 30 Versen 
zählt der Fürst die schlimmen Eigenschaften des Weibes auf. 
Kurz hierauf reitet er auf die Jagd und erblickt, abgesondert 
von seinem Gefolge, Griseldis. 


C’etait une jeune bergere 

Qui filait au bord d’un ruisseau, 
Et qui, conduisant son troupeau, 
D’une main sage et menagetre 
Tournait son agile fuseau. 


Elle aurait pu dompter les coeurs les plus sauvages; 
Des lis son teint a la blancheur, 

Et sa naturelle fraicheur 

S’etait toujours sauvee A l’ombre des bocages; 

Sa bouche de P’enfance avait tout l’agr&ment, 

Et ses yeux qu’adoucit une brune paupiere 

Plus bleus que n’est le firmament 

Avaient aussi plus de lumietre. 


Der Fürst heiratet Griselden, nachdem sie ihm zuvor ge- 
schworen hat nie einen andern Willen als den seinen zu haben. 
Ehe das Jahr zu Ende ist, wird den erfreuten Eltern eine Prinzessin 
geboren. Nun beginnt die Leidenszeit Griseldens, denn das Über- 
mass ihrer Tugend verletzt den misstrauischen Gatten, er sagt 
sich, dass auch die härteste Behandlung nur dazu dienen kann, 
diese Tugend, falls sie echt ist, zu befestigen. Wie eine Ge- 
fangene hält er sie in ihrem Zimmer zurück, all ihren Schmuck, 
an dem sie eine lebhafte Freude empfindet, muss sie heraus- 
geben. Griselde fasst — und dies ist das wesentlichste, im 
Unterschied zu den andern Bearbeitungen ganz neue Moment 
in der Charakterzeichnung der Heldin — alle Heimsuchungen 
als von Gott kommend auf, nur dazu bestimmt ihre Stand- 
haftigkeit und ihren Glauben zu prüfen. 


Griselidis in der französischen Literatur. 4 


[110] Il me choisit comme un enfant qu’il aime, 
Et s’applique ä me corriger. 


Aimons donc sa rigueur utilement cruelle; 
On n’est heureux qu’autant qu’on a souffert: 
Aimons sa bonte paternelle, 
Et la main dont elle se sert. 
Ihr Kind liebt Griselde über alles, der Vater ist Zeuge 
dieser Liebe, als die Mutter ihr Kind still, das kleine Wesen 
wird nun der Mutterbrust entrissen, 


„pour la preserver de certains mauvais airs qu’avec 
vous l’on peut prendre.“ 


Eine einsichtsvolle Dame soll die Prinzessin erziehen, nach 
zwei Tagen enthüllt er ihr den angeblichen Tod ihres Lieblings. 
Fünizehn weitere Jahre leben nun beide Ehegatten in zärtlicher, 
durch nichts getrübter Eintracht dahin. Unterdessen ist die 
Tochter in einem Kloster zur herrlichen Jungfrau erblüht, ein 
junger Edelmann, der dem Fürsten als Schwiegersohn hätte 
willkommen sein können, liebt sie und wird wieder geliebt. 
Der Graf beginnt sein frevelhaftes Spiel von neuem: Griselidis 
wird verstossen und muss die Zubereitungen zur Hochzeit mit 
der im Kloster erzogenen Braut treffen. Auch hier bittet Gri- 
selidis um schonendere Behandlung für die junge Braut, zu der 
sie eine unwiderstehliche Neigung hinzieht. Vor versammelten 
Gästen erklärt der Fürst, dass die Braut seine Tochter ist und 
er sie dem jungen Edelmann zur Gattin geben will,. Griseldens 
Leidenszeit ist zu Ende. 

„Sachez encor que, touche vivement 

‘De la patience et du zele 

De l’Epouse sage et fidele 

Que j’ai chassde indignement, 

Je la reprends, afin que je repare, 

Par tout ce que l’amour peut avoir de plus doux, 


Le traitement dur et barbare, 
Qu’elle a recu de mon esprit jaloux. 


Plus grande sera mon &etude 

A prevenir tous ses de&sirs, 

Qu’elle ne fut, dans mon inquietude, 

A V’accabler de deplaisirs; 

Et si dans tous les temps doit vivre la memoire' 
Des ennuis dont son coeur ne fut point abattu, 
Je veux que plus encore on parle de la gloire 
Dont j’aurai couronne sa supr&me vertu.“ 


42 Richard Schuster. 


Uns ergeht es wie Saint-Marc Girardin, der über den 
Fürsten das Urteil fällt: 


„Jaurais mieux aime un persecuteur serieux que cet 
„experimentateur de sangfroid.“ Und von Griselde sagt er: 
C’est une sainte qui a pris son mari pour Dieu. Je puis ne 
N 
pas aimer le Dieu qui est fantasque et mechant; j’admire 
la sainte.“ 


Griselidis hat rund 100 Jahre später, im Jahre 1795 eine 
erneute Behandlung in epischer Form durch Barthelemy 
Imbert erfahren. Während einer sechsmonatlichen Krankheit hat 
sich der Verfasser in seiner unfreiwilligen Mussezeit damit beschäf- 
tigt, die alten Fabliaux in Verse zu bringen. Namentlich kamen ihm 
hierüber die Veröffentlichungen von Legrand d’Aussy zu statten, 
aus dessen Werk er hauptsächlich schöpite. Aus den folgenden 
Worten, die seinem Avertissement (X) entnommen sind, ersehen 
wir, wie er sich dem überlieferten Stoffe gegenüber verhielt. 


„En choisissant parmi les fabliaux que Legrand d’Aussy 
a recueillis, jai change quelquefois, mais bien plus souvent 
encore j’ai abrege la narration, parce que j’ai observ& que les 
longueurs sont bien plus fatiguantes et bien moins pardonndes 
dans les vers que dans la prose.“!) 


Ein teilweiser Vergleich zwischen Perrault und Imbert 
schien mir. die nutzbringendste Methode diesen beiden Vers- 
erzählungen gegenüber zu sein, Imbert musste natürlich mehr 
in den Vordergrund gerückt werden, da über seine Arbeit noch 
nichts geschrieben ist und sie auch, wie bald erhellen wird, die 
wertvollere und wichtigere ist. 

Schon in der Form unterscheiden sich beide Dieningen: 
das Imbertsche Gedicht besteht aus drei in flüssige und gewandte 
Zehnsilbner geschriebenen Gesängen. Jeder Vers hat, meistens 
nach der vierten Silbe, eine Cäsur. Perraults Versnovelle besteht 
aus 932 freien Versen, die nicht durch Einteilung in Kapitel 
oder Gesänge übersichtlicher werden, sondern ohne irgend 
einen Einschnitt einander ununterbrochen folgen. 

Wenn auch der Schauplatz in beiden Verserzählungen die 
Lombardei ist, so ist doch in der Zeichnung der Charaktere 
des Grafen ein ziemlich tief gehender Unterschied aufzustellen. 
0) Auf der Strussburger Universitätsbihliothek ist ein Exemplar von B. In- 
bert vorhanden, Choir de fabliaux 1795, 2, 233: Griselidis, po@me en trois chants. 


Griselidis in der französischen Literatur. 43 


Glücklicherweise erspart sich Imbert die lange Schilderung der 
Vorzüge des Helden; bei Perrault ist der Marquis von Hause 
aus Pessimist, er hält das schöne Geschlecht ohne Ausnahme 
für treulos und wahrer Hingebung unfähig, daher auch seine 
tiefgehende Abneigung gegen die Eingehung jeglicher Ehe. 
Ein Mann von ganz anderem Schlage ist der Imbertsche Fürst. 
Er ist leichtsinnig und sorglos, Vorbilder für ihn waren ja gewiss 
vor der grossen Revolution am französischen Hofe genug vor- 
handen, seinen Standpunkt charakterisieren am besten die fol- 
genden Verse: 

„A son avis, toujours la volupte 

Prenoit la fuite A l’aspect d’un notaire. 

Oui, disoit-il, oui, ’hymen dans ses bras 

Glace le coeur par ses devoirs austeres; 

L’amour le fuit; il veut que ses soldats 

Sous ses drapeaux servent en volontaires; 

C’est ä l’ennui de signer des contrats, 

Mais les plaisirs sont tous c&libataires.“ 


Doch die Untertanen bestimmen ihn eines legitimen Erben 


wegen zur Ehe, schnell willfahrt er ihrem Wunsch und hat 
nur ein Bedenken: 


Quand par !’hymen ä pucelle on est joint, 
Et que d’enfans on peuple son me&nage, 
Est-on le p£re, ou l’est-on sans partage ? 
Mari de ville est toujours sur se point 
Moins rassur€ qu’un mari de village. 

Perrault dagegen zählt, unter Nichtanführung dieses Grun- 
des, in nicht weniger als 32 Versen die schlimmen Eigenschaiten 
des Weibes auf. Überhaupt gereicht der leichte flüssige Stil 
Imberts Werk entschieden zum Vorzug, auch hält er sich nicht 
so sehr mit Detailmalereien auf wie Perrault. Selbst will der 
Fürst seine Gemahlin suchen, und er knüpft nur die Bedingung 
an seine Einwilligung zur Heirat, dass eine allgemeine Aner- 
kennung seiner Zukünftigen erfolge, sei sie nun arm oder reich, 
aus hohem oder niederem Stande. Hat Perrault Janicola nicht 
handelnd dargestellt, so tut dies hingegen Imbert der Über- 
lieferung entsprechend wieder, in sinniger und origineller Weise. 

Janicola, von Leid und Alter gebeugt, ein treuer Vasall 
und zärtlicher Vater, sitzt in heissen Sommertagen im Schatten 
einer mit ihm gleichaltrigen, unterdes zu einem stattlichen Baume 
herangewachsenen Ulme, sein hartes Brot mit den Vögeln teilend, 


44 Richard Schuster. 


die gesättigt von Zweig zu Zweig fliegen und mit hellem Ge- 
zwitscher den alten Mann erfreuen. Rauhe Arbeit war zeitlebens 
sein Los, doch zum Ersatz dafür hat ihm Mutter Natur in seiner 
Tochter Griselidis einen nie versiegenden Quell reiner Freuden 
erstehen lassen. 


Griselidis charme la destinde 

Du villageois qui lui donna le jour. 
Fleur de beaute brille sur son visage; 
Un coeur sensible, un esprit doux et sage 
A ses appas prete un charme nouveau 
Le jour, aux champs vigilante bergtre, 
Elle conduit, fait paitre son troupeau: 
Sa main, le soir, en rentrant au hameau, 
Petrit le pain dont se nourrit son pe£re; 
Et par ses soins, cet ange tutelaire, 

Le fait sourire au bord de son tombeau. 


Weder eine lange Schilderung der Jagd mit ihren Zu- 
rüstungen noch eine eingehende Aufzählung ihrer Schönheiten, 
wie sie Perrault gibt, führt uns Imbert vor. Jn acht Versen ist 
gewandt und hübsch geschildert, wie der Marquis von ihrer 
Schönheit hört und sie auf der Jagd trifft. 

Il avoit vu ses charmes, sa candeur; 


Et son regard qui peignoit la tendresse, 
Sans le chercher, avoit surpris son coeur. 


Gern vermissen wir, wie die Schönen der Residenz sich 
anstellen, um ihrem Landesherren zu gefallen. Auch die Auf- 
zählung der Festlichkeiten bringt die Handlung bei Perrault 
keinen Schritt weiter. Die Begegnung des Marquis mit Grise- 
lidis vor der Hochzeit gewinnt bei Perrault dadurch mehr an 
Anmut und Natürlichkeit, dass er nicht zuvor Janicola um seine 
Einwilligung bittet, sondern sich mit den Worten „J’ai deja pour 
moi votre pere (Le prince avait eu soin de l’en faire avertir) 
begnügt. Imbert folgt der alten Tradition, indem Gautier zu- 
vor bei dem Vater Janicola das Jawort einholt. Bei Imbert 
muss Griselidis, was sehr beachtenswert ist, dem Marquis 
Treue und Gehorsam schwören und Rücksichtnahme auf 
seine Launen versprechen. Perrault geht weiter, wenn er 
ausserdem noch verlangt: 


Il faudrait me jurer que vous n’aurez jamais . 
D’autre volonte que la mienne. 


Griselidis in der französischen Literatur. 45 


Der. erste Gesang .endigt mit einer anziehenden Schilder- 
ung von Griseldens natürlicher Anmut. In den Staatskleidern, 
die sie mit ihrer Hirtentracht vertauscht hat, nimmt sie sich 
keineswegs linkisch aus, sondern sie bewegt sich darin mit 
angeborenem Anstand. 

Im zweiten Gesang wird eingangs beim Hochzeitsmäahl 
den Bauern ein grosses Festessen gegeben, und der Marquis 
befiehlt seinen Baronen, Griselidis und ihm in persona aufzu- 
warten. Nachdem der Ball für arm und reich vorbei ist, kommt 
die Brautnacht, die Imbert, der eine etwas sinnlich veranlagte 
Natur gewesen sein muss, in anziehenden Versen beschreibt. 

Griselidis ist dermassen schön, dass alle Männer für sie 
schwärmen und sogar ihre Mitschwestern, die Frauen, ihr ihre 
Schönheit verzeihen. Sie lernt mit wunderbarer Leichtigkeit 


Devinant tout, l’ecoliere du jour 
Le lendemain est l’emule du maitre. 


Mit ihren Gaben steht ihr Eifer in harmonischem Einklang. 
Trente soleils neuf fois ont lui pour eux, 
Quand d’une fille, image de tous deux, 
Gautier regoit le tendre nom de pere. 

Die Wegnahme des Kindes erfolgt bei Imbert ein Jahr nach 
der Geburt, bei Perrault kurz nach dieser. Beim letzteren 
kündigt der Graf Griselidis seinen Entschluss mit der Begründung 
an, dass sie vollständig ungeeignet sei eine Prinzessin standes- 
gemäss zu erziehen, er lässt daher seine Tochter durch einen 
Boten in einem nahe bei der Stadt gelegenen Kloster ohne 
Angabe ihrer Herkunit unterbringen Bei Imbert ist der Marquis 
humaner gezeichnet, seine Barone, angeblich schon lange mit 
seiner Wahl unzufrieden, zwingen ihn, seine Tochter fern von 
Vater und Mutter erziehen zu lassen. 


Griselidis sentit, a ce langage, 

Un trait poignant s’enfoncer dans son coeur; 
Mais son esprit avoit tant de douceur, 

Mais son amour avoit tant de courage, 
Qu’un froid mortel &toit sur son visage, 
Sans que sa voix exprimät sa douleur. 


So grausam ist der Imbertsche Marquis nicht, dass er ihr 
nach zwei Tagen den angeblichen Tod ihres Kindes eröffnet. 
Vier Jahre lässt Imbert bis zur Geburt eines Sohnes verstreichen 
und führt wieder als Grund für die Wegnahme die ungestüme 


46 Riehard Schuster. 


Forderung der Barone an, die sich weigern, den Enkel eines 
armen Bauern als künftigen Grundherrn anzuerkennen; Interesse 
und Not gebiete dem Marquis, diesen Wunsch zu erfüllen. 
Die folgenden Verse des Dichters enthüllen uns seine 

innere Anteilnahme an dieser erneuten Prüfung, und zeigen, 
wie sehr er über dem Stoffe steht und das Verhalten des Mar- 
quis verurteilt: 

Non; ce mari bizare et des plus fous, 

Dont le bonheur e&tait sans doute unique; 


Veut ötre encore injuste et tyrannique, 
Avant d’oser se croire heureux &Epoux. 


Es kann zweifelhaft bleiben, ob man Perrault den Vorzug 
geben soll, der Griselidis nur einmal Mutter werden, sie aber 
den Schmerzenskelch bis zur Neige leeren lässt, oder Imbert. 
Dieser hat eine gemilderte Motivierung und erzählt die Geburt 
und die Wegnahme zweier Kinder der Überlieferung folgend. 

Der zweite Gesang endigt mit den Worten: 


„Ce fils enfin, loin des bras de sa me£re, 
Seul, et sans bruit, sous l’ombre du myst£re, 
La m&me nuit va rejoindre sa soeur.“ 


Zwölf Lenze ist nun schon Griselde an Gautier gekettet,!) 
die Zeit ist gekommen, wo sie selbst verstossen wird, der 
Marquis eröffnet ihr dies wieder als durch den Willen der 
Vasallen geboten. | 

Die Antwort der Griselidis zeigt deutlich, dass ihr Cha- 
rakter der Überlieferung entsprechend gezeichnet ist. j 


La fille, helas! d’un simple laboureur 

Eut un moment votre main, votre coeur; 
Mais y pretendre eüt EtE tEme£raire. 
Griselidis, qui naquit pour souffrir, 

Perd un Epoux, mais il lui reste un maitre; 
De ce palais, que mon coeur dut cherir, 
Je sortirai, sire, et jirai mourir 

Dans la cabane oü le ciel me fit naitre. 
Quant au douaire, alors que je quittai 
Pour votre cour, mon obscure chaumiere, 
Vous le savez, je ne vous apportai, 


1) Imbert sagt einmal: De&ja sa fille a vw quinze printemps; deja son fils 
voit sa huiticme annee; wie aus dem Vorhergehenden und dem Folgenden ersichtlich 
ist, muss anstatt quinze „douze“ gesetzt werden. Der Graf sagt gleich nachher 
selbst wieder: Depuis douze ans que ‚j’ar regu ta main. 


Griselidis in der französischen Literatur. 47 


Avec un coeur toujours chaste et sinc£re, 
Rien que respect, amour et pauvrete. 

Voici ’anneau que recut la tendresse, 

Que le devoir va remettre en vos mains; 
Les vetemens, fruits de votre largesse, 
Qui me paroient sans changer mes destins, 
Etoient A vous, A vous seul; souffrez, sire, 
Qu’ avec les miens, au moins je me retire; 
je les avois conserves pres de moi, 
Comme un t&emoin, toujours pret & me dire 
Ce que je fus, et ce que je vous doi. 

De mon hameau, pauvre, j’etois sortie, 

Y rentrer pauvre, est toute mon envie. 

De mon bonheur, plus court qu’un beau matin, 
Je veux garder un souvenir durable, 

Et n’emporter que l’honneur d’ötre enfin 
D’un tel epoux la veuve irr&prochable. 


Nachdem sie sich noch ihrer Kleinodien entledigt hat, geht 
sie wieder zu ihrem armen alten Vater zurück, der sie gut 
aufnimmt. Schon am andern Tag wird sie wieder an den Hof 
zurückgerufen, um die Vorbereitungen zur Hochzeit ihres Gatten 
zu treffen. Zu der jungen Prinzessin fasst Griselidis die innigste 
Zuneigung, so dass sie sich zu dem Marquis mit der Bitte 
wendet, der neu gewählten Gattin alle die Leiden zu ersparen, 
die sie selbst erduldet hat. 


Plus delicate, et peu faite & souffrir, 

Son coeur sans doute aussi tendre, aussi sage, 
Contre ses maux auroit moins de courage, 
Sans le vouloir, vous la feriez mourir. 


All diese Worte entlocken Gautier Thränen: „All meine 
Tyrannei“, ruft er aus, „hat nur Gehorsam, Liebe und Treue 
bei dir gezeitigt.“ Sie wird wieder in Ehren angenommen und 
lebt, mit ihrem Gatten und ihren Kindern vereint, noch lange 
Jahre glücklich. 


Le fils dit-on, plus sage ou moins jaloux, 
N’imita point l’auteur de sa naissance; 

Il eut raison; je crois que parmi nous, 
Sans trop chercher, on verroit des Epoux 
Bien moins heureux avec plus de prudence. 


48 Richard Schuster. 


Wenn wir bei Petrarka die Dulderin aus Liebe finden, so 
scheint Imbert wie Boccaccio vielmehr auf den als Pflicht 
erkannten, aber freudig und freiwillig erwiesenen Gehorsam das 
Hauptgewicht zu legen. Als Beweis hiefür diene die Antwort 
Griseldens auf das Ansinnen ihres Gatten, ihre Tochter heraus- 
zugeben: 

Quand jusqu’a moi ’amour vous fit descendre, 
Je vous jurai d’obeir ä jamais; 

Ma fille, sire. est un de vos bienfaits, 

Elle est ä vous, vous pouvez la reprendre. 

Mehr der pflichtmässige, freudig geleistete Gehorsam als 
die Liebe veranlassen Griselidis zu unerschöpflicher Geduld, 
und Nachgiebigkeit, von dem Zuge der Religiosität, der Per- 
raults Heldin anhaftet, ist bei Imbert nichts zu spüren. Dem 
Gedicht gereicht wie dem Perraultschen zum Vorzug, dass die 
Bitte der Dulderin um schonende Behandlung der angeblich 
neuen Gattin einem persönlichen Gefühl der Teilnahme ent- 
springt, während dieser Ermahnung sonst überall eine direkte 
Frage des Gemahls vorausging. Bei Imbert ist der Marquis 
eine weniger pessimistische Natur als bei Perrault. Von mancher 
Schönen ist er auch mehr als einmal schon hintergangen worden, 
und deshalb ist er etwas misstrauisch, seine Proben stellt er, 
um zu erfahren, ob Griselidis ihn wirklich liebt. 

Notre marquis, defiant ou jaloux, 

Veut Epouver, par goütou par systeme, 

Amant injuste, impertinent Epoux, 

S’jl est, s’il peut &tre aime& pour lui-m&me. 
Wir können feststellen, dass die der Heldin auferlegten Prüf- 
ungen mit einiger Folgerichtigkeit aus dem einen Grundzug in 
des Fürsten Wesen, dem Misstrauen gegen wahre Liebe, sich 
entwickeln, und daher etwas von der anderen Darstellungen 
anhaftenden Willkür verloren haben. Die unmotivierte Sucht 
zu quälen tritt nicht störend bei dem Grafen auf, da glücklicher- 
weise die Nebenepisode der Tochter und ihres Liebhabers fern- 
gehalten ist. Im ganzen ist der Imbertsche Graf humaner ge- 
zeichnet als der Perraultsche, und wir verstehen es, wenn er nach 
Erprobung der Liebe und des Gehorsams seiner Gattin ausruft: 

Oui, je le vois, oui, toi seule ici bas, 

Tu me£ritois, ange ou femme accomplie, 


D’ötre ä la fois mon @pouse et ma mie, 
Et tu vas l’ötre aussi jusqu’au tr&pas. 


Griselidis in der französischen Literatur. 49 


Das Imbertsche Gedicht ist durch den straffen, geradlinigen 
Verlauf seiner Handlung sowie durch Übergehen verschiedener 
retardierender Detailmalerei und auch durch seinen gewandten 
Stil der Arbeit Perraults vorzuziehen. Der Verfasser weiss, 
dass Perraults Werk kein gefährlicher Rivale ist, wenn er in 
seinem Vorwort schreibt: 


„Perrault en a fait aussi une imitation en vers francois; 
mais on m’a assurd que son style si läche, si diffus, si in- 
correct, ne pre&sentoit pas une rivalit& bien formidable.“ 


Imbert steht dem ganzen Griselidisstoff so unbefangen und mit 
so gesundem Gefühl gegenüber, dass man nur bedauern kann, 
dass er die Fabel nicht wesentlich umgeändert hat. 


„Vous, qui voulez lire au coeur de vos femmes, 
N’employez pas ce dangereux moyen, 

Sages Epoux; je ne dis rien aux dames; 

Leur instinct seul les conseillera bien. 
Griselidis ne pourra les seduire 

Par son exemple, €Etrange au dernier point; 
Elles auront le courage de dire: 

Admirons-la, mais ne l’imitons point.“ 


50 Richard Schuster. 


Ill. Dramatische Bearbeitungen. 


Der Griselidisstoff wurde in einer Reihe von Kulturländern 
dramatisiert,') doch ist es keinem neueren Dichter gelungen, 
den Stoff völlig modernem Empfinden anzupassen. Auch Halm, 
der mit seinem dramatischen Gedicht Griselidis (1835) eine grosse 
Bühnenwirkung erzielte, hat trotz seiner glänzenden dichterischen 
Sprache keine „allgemein menschliches Interesse erweckende, 
ästhetisch wertvolle Schöpfung“ ?) zustande gebracht. Armand 
Silvestre hat dagegen m. E im Jahre 1891 den Stoff befriedigen- 
der umgestaltet. 

Von dramatischen Bearbeitungen sind in Frankreich ausser 
dem Mystere von 1395 noch vier nachzuweisen. 

Eine angebliche fünfte gehört nicht hierher: 


Les Cing Sens 
ballet-pantomine en 3 actes et 5 tableaux 
de MM. Dumanoir et Mazilier; 


allerdings trägt die Hauptheldin den Namen Griseldis, jedoch 
fehlen ihr die charakteristischen Züge der edlen Dulderin völlig. 

Die so allein in Betracht kommenden vier Bearbeitungen 
haben indessen durchweg den Wesenskern der Griselidiserzäh- 
lung, die Geduldsproben, beibehalten. Charaktere, Handlung 
und auch Form der dichterischen Darstellung weichen ent- 
sprechend der Eigenart der Dichter und der Zeit der Abfassung 
sehr von einander ab. 

In Prosa ist geschrieben: 


La Griselde, 
tragi-comedie italienne, en 5 actes. 

De Luigi Riccoboni, dit Lellio, Comedien de S. A.R. 
Monseigneur le Duc d’Orleans, Regent du Royaume. 
(Paris 1717.) 

Die andern drei sind in Versen geschrieben, zwei davon 
ın Alexandrinern und zwar: 
die come&die: 
Griselde ou la Princesse de Saluces 
von Louise Genevieve, danıe de Saintonge (Dijon 1714); 


1) s. Köhler 8. 524—532. 
2) Widmann S. 119. 


Griselidis in der französischen Literatur. 51 


ferner: Griselde 
ou la fille du peuple 
drame en 3 actes, en vers (1849); 
von Christien Ostrowski. 


In freien Verse geschrieben ist die letzte und wertvollste 
aller französischen Griselidisbearbeitungen, die von Armand 
Silvestre und Eug&ne Morand: 


Griselidis, mystere en 3 actes. (Paris 1891.) 


Auf die Tragi-comedie von 1718 und die Comedie der Frau 
von Saintonge ist sicher Perraults Versnovelle von Einfluss ge- 
wesen und zwar in der Einschiebung des Liebesromans von 
Griseldens Tochter. Die Charaktere der Griselidis und des 
Fürsten haben Perrault gegenüber einschneidende Änderungen 
erfahren. Bei Griselden fehlt jeglicher religiöse Grundzug, 
durch eine beinahe knechtische Liebe zu ihrem Gemahl unter- 
zieht sie sich in der Tragi-come&die willig den ihr auferlegten 
Prüfungen; bei Madame de Saintonge ist ihre Liebe schon mehr 
dem modernen Empfinden angepasst, und da und dort lehnt 
sie sich in langatmigen Reflexionen gegen den tyrannischen 
Gatten auf. Durch stärkere Betonung ihrer Liebe und ihrer 
Schmerzempfindung sucht die Verfasserin sie natürlicher zu 
machen. Des Markgrafen Charakter ist aber in beiden Dramen 
weder umgestaltet noch einheitlich durchgeführt, dies hätte vor 
allem geschehen müssen, auch hätten die Verfasser auf eine 
bessere Motivierung der Prüfungen ausgehen sollen. Er tritt 
uns in beiden Dichtungen noch tyrannischer und selbstsüchtiger 
entgegen als in den grundlegenden Bearbeitungen von Boc- 
caccio und Petrarka. 

Als Neuerung kommt schon in der Tragi-comedie, die eine 
Nachahmung des italienischen Melodramas von Apostolo Zeno?) 
ist, zum ersten Mal in den französischen Bearbeitungen neben 
einer Erprobung von Griseldens Gehorsam auch die Versuchung 
ihrer Treue in Betracht. Das Bestreben, Griselde nicht nur zum 
Vorbild einer gehorsamen, sondern auch zu dem einer treuen 
Gattin zu machen, ist auch in den Arbeiten von Ostrowski und 
Silvestre deutlich zu erkennen. Dass Ostrowski hierin sehr 


1) Apostolo Zeno : La Griselda, Venedig 1701. (Poesie drammatiche di A. Zeno, 
Venezia 1744, tome 3). Vgl. Köhler S. 531. 


52 Richard Schuster. 


wesentlich von Halms dramatischem Gedicht beeinflusst war, 
soll später nachgewiesen werden. 

Wie Halm verbindet Ostrowski die Griselidisfabel mit dem 
Artushof und verwandelt den Markgrafen von Saluz in den 
Ritter Percival. Die Prüfungen werden zeitlich zusammen- 
gedrängt und durch eine Wette zwischen Ginevra und Perceval 
hervorgerufen Von Ginevra gehen die Prüfungen aus „und 
für ihre Durchführung bietet das Lehensverhältnis Percevals zu 
dem mächtigen Artus einen weit wahrscheinlicheren Hintergrund, 
als der sonst vorgeschützte Wille der Untertanen.“ (Widmann, 
Euphorion 1907, Bd. 14, S. 117.) 

Die unglaublich selbstlose Liebe der Griselidis wird in 
den Mittelpunkt des ganzen Stücks gerückt. Doch hat es 
Östrowski nicht verstanden, uns in Griselidis und Perceval 
lebenswahre Menschen vorzuführen. Der Charakter des ehr- 
süchtigen und egoistischen Perceval ist noch mehr verzeichnet 
als der der Griselidis. 

Armand Silvestre ist auf eine glückliche Lösung der in 
den Hauptcharakteren enthaltenen Schwierigkeiten gekommen. 
Er führt ähnlich den deutschen katholischen Klosterdramen 
des 17. und 18. Jahrhunderts den Teufel ein, es ist ihm dadurch 
die Möglichkeit gegeben, den Markgrafen ganz und gar nicht 
selbstsüchtig zu gestalten und die Prüfungen werden durch 
den Abschluss einer Wette während des Grafen Abwesenheit 
auf einem Kreuzzug durch den Teufel ausgeführt. Griselidis 
wird hier zum Urbild einer treuen und gehorsamen Gattin ge- 
stempelt. Die Versuchung ihrer Treue durch Alain überwindet 
sie siegreich. Die Silvestre’sche Griselidis ist die einzige, die 
sich noch heutigentags auf der Bühne hält, es ist daher eine 
eingehendere Untersuchung ihrer Quellen und ihrer dichterischen 
Form wohl angebracht. 


Mangel an gesundem Gefühl lässt Madame de Sain- 
tonge (Louise Genevieve Gillot Me de Saintonge (1650—1718), 
eine Pariser Advokatenfrau, in ihrer fünfaktigen, Come&die genann- 
ten Griselde, ou la Princesse de Saluces sehr häufig 
erkennen, wie eine eingehendere Inhaltsangabe sofort dartun wird. 


Griselidis in der französischen Literatur. 53 


Griselidis, die Frau des Fürsten Sallust erzählt traurigen 
Herzens ihrer Nichte Isabelle ihrer Liebe Glück und Leid. 


Le fidele recit de ma triste aventure 

Vous fera concevoir les peines que j’endure. 
Quand je vis ce Heros pour la premiere fois, 

Il s’etait, en chassant, @gare& dans les bois: 

Que de troubles secrets mon äme hıt &@mue, 
Dans le fatal instant qu’il s’offrit ä ma vüe! 

Je voulus l’eviter; mais, helas! par malheur, 

La douceur de sa voix dissipa ma frayeur: 
Arretez, me dit-il, trop aimable Bergere, 

La chasse m’a conduit dans ce bois solitaire, 

Je n’en saurois sans vous d@meler les detours. 
Votre prince a besoin de ce petit secours. 
Demeurez un moment, c’est lui qui vous en presse: 
Je reviens, et d’abord pour lui je m’interesse, 

Et lui servant de guide au fond de la Forät, 

Je lui montre un chemin qui mene ä son Palais; 
L’amour qui me pre&pare une peine cruelle, 

Lui trace de ce bois une route fidele, 

Il lui marque si bien jusqu’aux moindres detours 
Que ce prince amoureux y revient tous les jours. 
Que ses feux en ce temps avoient de violence! 
L’amour sgut reparer la cruelle distance 

Que le bizarre sort avait mise entre nous. 

Enfin j’eus le plaisir de le voir mon Epoux. 

Ce plaisir enchanteur, helas! ne dura guere, 

La Princesse eut regret de n’etre plus Bergere, 
L’himen, en m’elevant au faite des grandeurs, 
M’öta de mon amant les plus vives ardeurs: 
Ciel’quel suplice affreux de cesser d’etre aimee, 
Lors qu’ä cette douceur on est accoutumee! 


Wir hören dann weiter, wie der Fürst seine Tochter bei 
seiner Schwester, der Herzogin von Florenz, standesgemäss er- 
ziehen lässt und Griselidis jede Befähigung zur Erziehung ab- 
spricht. Doch nicht in blindem Gehorsam wie bei Perrault gibt sie 
nach, sie rafft sich zu einem ganz energischen Widerspruch auf. 


Ah! Seigneur, est-il tems de donner des lecons 
Aux enfans qui n’ont vü qu’& peine deux saisons ? 


Thränen und Klagen stimmen den Fürsten nicht um, aus 
ihren Armen wird ihr das Kind gerissen und einige Tage nach- 
her erfährt sie seinen Tod. Soweit die Exposition in der ersten 
Szene. In der zweiten beginnt die Handlung. Der Fürst er- 


54 Richard Schuster. 


scheint und teilt ihr in dürren Worten mit, der Volkswille gebiete 
ihm eine neue, aber ebenbürtige Verbindung einzugehen, denn 


Un divorce avec vous satisfera ma gloire 
Je n’&coute plus qu’elle; il faut vous retirer. 


Die Antwort Griseldens zeigt uns, dass wir eine Griselidis 
vor uns haben, die nicht mehr ihrem Manne blindlings gehorcht 
wie bei Perrault und sogar noch bei Imbert, sondern eine in 
Hofintriguen erfahrene, man möchte beinahe sagen, raffinierte 
Dame. Unter Wahrung der äusseren Form und bei scheinbarem 
Entgegenkommen weiss sie ihm doch ganz gehörig die Meinung 
zu sagen und erkennt den tieferen, nicht ausgesprochenen Grund 
für die Ehescheidung sehr wohl: 

Mais un nouvel amour, sous le nom de la gloire, 
Vous parle contre moi; Seigneur, faut-il le croire? 


La gloire d’un grand Prince est de garder sa foi 
Eh, qui pourra jamais vous aimer comme moi? 


Doch jagt sie der Fürst mit rauhen Worten fort, und der 
kurze Monolog, den er hierauf hält, lässt uns erkennen, wie tief 
sein Misstrauen gegen alle Frauen eingewurzelt ist und wie er 
sie alle ohne Ausnahme für falsch, hinterlistig und berechnend 
hält. Hidaspe, der Vertraute und einstige Hofmeister des 
Fürsten, sucht zu erfahren, warum sein Herr sich seiner seit- 
herigen Gemahlin entledigen will; so leicht gelingt ihm dies 
jedoch nicht und er muss sich manches harte Wort von dem 
Tyrannen sagen und gefallen lassen. 


Si je change de femme, il n’est pas surprenant 
Que je veuille changer aussi de Confident. 


Vergebens beschwört ihn dieser, von seiner seltsamen 
Laune abzustehen; ja er, der gewohnt ist, in der Seele seines 
einstigen Schülers zu lesen, sagt ihm geradezu, dass Isabelle 
zweilellos Griselde in seinem Herzen abgelöst hat. 

Hidaspe, die verkörperte Vernunft, hält ihm in treffenden 
Worten das Verwerfliche seines Tuns vor Augen, . da der Prinz 
zugibt, dass er recht geraten. 

Quand vous croyez son sexe infidele et trompeur, 
Lorsque tout est suspect &ä votre äme jalouse, 
Prince, vous voulez prendre une nouvelle Epouse, 


Aurez-vous en changeant, plus de tranquilite ? 
Non, le Ciel punira tant de legerete 


Griselidis in der französischen Literatur. 55 


Par les redoublemens de votre jalousie; 
Les chagrins, les soupcons troubleront votre vie; 
Enfin si vous suivez ce penchant dangereux 
Vous serez A jamais — 

Prince: Que serai-je? 

Hidaspe: a jamais malheureux. 


Deutlich gibt der Fürst Hidaspe zu verstehen, dass er 
immer noch Herr seines Schicksals ist, und es auch in Zukunft 
bleiben werde, dann entfernt er sich. Der Vertraute gibt die 
Hoffnung noch nicht auf, seinen Herrn von seiner unglück- 
seligen Leidenschaft zu heilen, hat er doch gesehen wie Federic, 
der die junge Prinzessin an den Hof geleitete, zu dieser durchaus 
nicht hoffnungslos in Liebe erglüht. 


Der zweite Akt führt uns Griselden ın ihrer alten Tracht 
als Schäferin vor. Alle Grösse und alle Pracht verlässt sie 
ohne Pein, nach einem hohen Rang hat ihre Seele nie gedürstet. 


Que n’etoit-ce un Berger que le Heros que j’aime ? 
Son coeur auroit et€ pfus tendre et plus constant. 


Warum auch für einen flatterhaften Gatten Thränen ver- 
giessen, für immer will sie dieses verhängnisvolle Liebesfeuer 
mit Hilfe der Vernunft zum Verlöschen bringen. 

Phenice, ihre Vertraute, teilt ihr das Verbot des Fürsten 
abzureisen mit. Gross ist ihre Freude, sie 'kann, trotzdem 
Phenice ihr alles recht glaubhaft zu machen sucht, kaum an 
den glücklichen Umschwung der Dinge glauben. 


Mais, Phenice, crois-tu qu’ une nouvelle flame, 
En faveur d’Isabelle aurait surpris son coeur ? 
Peut-etre a-t-elle mis le comble ä mon malheur; 
Pour faire un inconstant elle n’est que trop belle, 
Et la tendre amitie qu’il a fait voir pour elle, 
Auroit pü le conduire aisement A l’amour. 


Jäh wird sie aus idealen Träumen zur rauhen Wirklichkeit 
zurückgeführt. Der Fürst, der hier zur Verkörperung der höchsten 
Potenz von Barbarei und Tyrannei geworden ist, kommt und 
befiehlt ihr ohne weitere Umschweife die Zubereitungen zum 
Hochzeitsfeste mit Isabelle zu treffen. Ausserdem soll sie noch 
Isabelle, die von allem nichts weiss, auf ihre morgige Hochzeit 
mit dem Fürsten vorbereiten. Das liebliche nichtsahnende Kind 


56 Richard Schuster. 


erscheint und bedauert Griseldens Schicksal unendlich, fühlt 
aber ihr Herz nicht mehr schlagen, als sie von des Fürsten 
Absichten auf ihre eigene Hand hört: eher noch seinen Hass 
als seine Liebe empfinden! 

Moi, je P’&pouserois! que plutöt je perisse, 

Je ne veux point avoir part A son injustice: 

Par le plus dur refus je vais lui faire voir 

Que son coeur s’est flattE d’un inutile espoir. 

Doch die ablehnende Haltung Isabellens wird den Fürsten 
nicht von seinem Vorhaben abbringen, umso begehrenswerter 
wird ihm nur noch das Ziel des Kampfes erscheinen, denn trotz 
aller Fehler seines sonderbaren Charakters sagt sich Griselidis, 
dass er liebenswürdig sein und sicher Eindruck auf ein junges 
Herz machen kann. Isabelle wird vielleicht nach einigen Tagen 
seinem Liebeswerben nachgeben, deshalb ist Flucht das einzige 
Mittel, das ihr den Anblick dieses verhängnisvollen Augen- 
blicks erspart. 

Die Handlung schreitet im zweiten Akt flott weiter. Lyrische 
Partien, wie sie uns etwa Armand Silvestre darbietet, fehlen 
gänzlich. Den Charakter der Griselidis lernen wir von einer 
neuen Seite kennen, die wir in keiner der bisher betrachteten 
Darstellungen beleuchtet fanden. Bei Perrault, dessen Novelle 
Madame de Saintonge ausser einem französischen Volksbuch 
wohl vorgelegen haben wird, „begegnet sie uns als christlich 
iromme Dulderin, welche in den ihr auferlegten Prüfungen die 
liebende — weil strafende — Hand Gottes erkennt und in dem 
Gatten das Werkzeug dieser göttlichen Fürsorge liebt.“ (Westen- 
holz S. 70.) Ganz anders hier. Hier wird die Liebe allein in 
den Vordergrund gestellt, diese Liebe gibt nicht so willig und 
so widerspruchslos nach wie in den früheren Bearbeitungen, 
nein, sie bäumt sich mit aller Macht auf gegen eine derartige 
Behandlung, und nur die aut die Spitze getriebene Grausamkeit 
des Gatten, die herzlos alles niedertritt und bekämpft, was ihr 
hindernd in den Weg tritt, lässt ihr Kämpfen vorläufig er- 
tolglos sein. 


Im dritten Akt tritt Federic, der Geliebte Isabellens, auf 
_ und quält sie mit törichter, grundloser Eifersucht, sie weiss ihm 
aber seine Ungerechtigkeit und die Innigkeit ihrer Liebe über- 
zeugend vor Augen zu führen: 


Griselidis in der französischen Literatur. 57 


J’etouffois mes soupirs, je devorais mes pleurs, 
Afin de t’arracher ä tes vives douleurs. 

Trop sensible pour toi, trop cruelle A moi-m&me, 
Je redoublois mes maux par cet effort extr&me. 


In einer langen phrasenreichen Tirade erfleht er ihre Ver- 
zeihung, da erscheint urplötzlich der Fürst; Federic versucht 
vergeblich zu entfliehen, um ihm seine schreckliche Verlegen- 
heit zu verbergen. Nach Höflingsart appelliert er an den Fürsten, 
den grossherzigen Helden, wie er ihn nennt, und teilt ihm mit, 
dass Isabelle aus Freundschaft für Griselidis die ihr zugedachte 
Ehre, seine Gattin zu werden, zurückweisen wird. Der Despot 
ist äusserst erbost über die Zurückweisung seines Antrags und 
wittert als Gegner seines Glücks sofort einen Nebenbuhler. 
Isabelle weiss mit dem hohen Herrn umzugehen. Nur die 
Freundschaft für Griselidis, deren Tugend und Schönheit nichts 
gleiche, veranlasse sie, die ihn nur durch den Reiz der Neuheit 
zu fesseln gewusst habe, die Hand des Fürsten auszuschlagen. 


ll faut que la raison, Seigneur, fasse en ce jour 
Ce que l’himen feroit sur votre injuste amour. 


Doch die Vernunft klopft bei dem Fürsten vergebens an: 
darüber, dass Isabelle ihm nicht zu Willen ist, gerät er in 
fürchterliche Wut und verbietet ihr, ihr Zimmer zu verlassen. 
Zu ihrem Wächter bestellt er Federic, der sie gefügig machen 
soll, sonst will er zu andern Mitteln greifen. 

Auch Hidaspe gelingt. es nicht, trotz energischer Versuche, 
seinen Herrn umzustimmen, auch der leise Hinweis, Isabellens 
Herz sei nicht mehr frei, bringt keine Änderung in dessen Be- 
nehmen zuwege, aufs Äusserste ist sein Zorn gestiegen, da 
kommt ihm als Ableiter hiefür Griselidis eben recht. Er empfängt 
sie folgendermassen: 


„Quoi! vous m’osez trahir, quand je me fie ä vous! 
Vous avez d’Isabelle allume& le coüroux, 

Au lieu de l’engager ä suivre mon envie. 

Ne rougissez-vous point de votre perfidie? 

Se peut-il qu’ä son Prince on manque ainsi de foi? 
Qui pourra vous servir d’excuse aupres de moi ?* 


Zur besseren lataklerzeichnung der Heldin führe ich 
ihre Antwort wörtlich an: 


58 Richard Schuster. 


De ce crime, Seigneur, je ne suis point capable; 
Et quand je l’aurois fait, serois-je si coupable? 
Le violent amour, qui P’aurait sch causer, 

Ne suffiroit-il pas lui seul pour l’excuser? 

Mais loin de vous trahir, je me trahis moi-mäme, 
Jai sch vous obe£ir, malgr& ma peine exträme, 

Et prete, en vous perdant, de perdre aussi le jour, 
Jai fait ce que j’ai pü pour servir votre amour. 
Si la jeune Princesse ä vos voeux est contraire, 
Faut-il faire tomber sur moi votre colere? 
Prenez quelque pitie de l’etat, oü je suis; 
N’ajoutez rien, Seigneur, ä mes mortels ennuis. 


Der Fürst achtet all ihrer Klagen und Tränen nicht und 
verlangt stürmisch, sie solle auf Kosten ihres eigenen Glücks 
ihn glücklich machen, sonst zweifle er an ihrer Liebe. Sie gibt 
nach und sagt: 


je vais dä te servir montrer autant d’ardeur, 
Qu’ä me persecuter tu montres de fureur. 


Phenice hat inzwischen alles zur Flucht vorbereitet, doch 
Griselde will nun den unmenschlichen Tyrannen nicht mehr 
verlassen und ist allen Vernunftgründen unzugänglich. 

Der Knoten ist geschürzt. Welches wird die Lösung sein? 
Gewinnen die Freunde Griseldens, Hidaspe und Isabelle, den 
nötigen Einfluss auf den flatterhaften, unbeständigen und treu- 
losen Fürsten, um ihn zu veranlassen, das Schicksal des jungen 
Mädchens nicht an das seine zu ketten oder üben die rührenden 
Bitten und Klagen einer Griselidis irgend welchen Einfluss auf 
sein hartes Herz aus? Diese grosse Uneigennützigkeit, diese 
Selbstentäusserung einer Griselidis, die diesem tyrannischen, 
grausamen Gatten eine stets unverminderte, unbegrenzte, schran- 
kenlose Liebe entgegenbringt, befremdet an vielen Stellen direkt 
unser modernes Empfinden. Glücklicherweise haben die andern 
Personen aus Freundschaft für Griselidis und aus Gerechtigkeits- 
gefühl gegen den Fürsten Partei ergriffen. 


„ 1m vierten Akt hat es den Anschein, als solle der wirr 
verschlungene Knoten gewaltsam durchhauen werden. Phenice 
überredet Federic, Isabelle bei Nacht und Nebel zu entführen. 
Liebe und Pflicht, denn er ist ja zum Wächter Isabellens vom 
Fürsten bestellt, stehen in seltsamem Widerstreit in seiner Brust, 
endlich entschliesst er sich, dem Plane der Vertrauten nachzugeben. 


Griselidis in der französischen Literatur. 59 


Isabelle, die sich mit Mühe vor der für ihren Gatten werbenden 
Griselidis geflüchtet hat, erscheint. Ihr Geliebter schlägt ihr 
vor, in ferne Lande mit ihm zu fliehen und an einem zurück- 
gezogenen, sicheren Ort eine glückliche Ehe mit ihm zu führen. 
Isabelle hofft auf des Himmels Hilfe und sein Einschreiten für 
die bedrückte Unschuld. Phenice und Federic geben ihr zu 
verstehen, dass die Zeit dränge, dass alles verloren sei, wenn 
sie nicht heute noch den Hof verlasse. Isabelle gibt hierauf 
die sonderbare Antwort: 

„Je songe qu’en fuyant je trahirois ma gloire; 

Je n’y puis consentir.“ 


Daraufhin entspinnt sich ein Streit zwischen den beiden 
Liebenden, die sich gegenseitig Lieblosigkeit vorwerfen, es ist 
überflüssig, ihn durch alle Phasen hindurch zu verfolgen. 


Adieu volage, adieu, contentez votre envie, 
Pour ne vous plus troubler je renonce ä& la vie. 


Diese Drohung Federics, sich ein Leid anzutun, fruchtet, 
und Isabelle willigt ein zu fliehen und zwar nach Florenz zur 
Herzogin, ihrer Mutter. Bei Griselidis wirkt eine von Phenice 
erfundene Kriegslist. Diese teilt ihr mit, Isabelle wolle dem 
Fürsten nachgeben, nun zeigt Griselidis ihre wahre Natur und 
sie kann sich nicht genug tun mit Klagen und Jammern. 

Inzwischen kommt der Fürst, und sie bittet ihn in 
bekannter Weise um mildere Behandlung der neuen Gattin. 
Einer Schäferin Lehren habe er nicht nötig und auch ohne ihre 
guten Ratschläge wisse er, was er zu tun habe: so fertigt sie 
der dankbare Gemahl kurz und roh ab. Wir gönnen ihm, dass 
der Eifersucht Qualen sein Herz zerreissen, als er von Hidaspe 
hört, er habe einen glücklichen Nebenbuhler. 


Im fünften Akt erfahren wir, dass der Fluchtversuch 
des jungen Liebespaares von dem Fürsten vereitelt worden ist. 
Der Untergang Federics ist beschlossene Sache. Isabelle über- 
häuft Phenice mit Vorwürfen, da alles nur infolge ihrer ver- 
hängnisvollen Ratschläge geschehen sei. Da kommt Federic: 
Des Fürsten Rache, sagt er, sei seine (des Fürsten) sofortige Ver- 
heiratung mit Isabelle. Ohnmächtige Wut, verzehrende Eifersucht 
zerreissen sein Herz. Da der Fürst ihn als Gegner verachtet, 
so hat er ihm Leben und Freiheit geschenkt. Nun will er seine 


60 Richard Schuster. 


Leute bewafinen und das Land des Fürsten mit Krieg überziehen. 
Indessen schaudert Isabelle davor zurück, sein Leben will sie 
nicht in Gefahr wissen, sollte es zum Schlimmsten kommen, dann 


Plutöt que cette main trahisse votre ardeur, 
Vous la verrez s’armer pour me percer le coeur. 


Der Vernichter all ihres jungen Glücks, der Fürst kommt 
zur ungelegenen Zeit. Federic verteidigt sich in prächtiger 
Rede gegen den ihm vom Fürsten vorgeworfenen Verrat. 
Tausendfachen Tod will Isabelle lieber erleiden als sich mit 
diesem vereinen. Ein geheimer Schauder ergreift und schüttelt 
sie, wenn sie daran denkt, und düsterer Ahnungen voll ist ihre 
Seele. Der Fürst sieht all dies als das Werk einer launenhaften 
Kokette an. Griselde greift noch einmal vergebens zu Gunsten 
Isabellens ein; sofort soll nach dem Willen des Tyrannen die Hoch- 
zeit stattfinden. Allein zurückgeblieben hält er folgenden Monolog, 
der zeigt, wie bessere Regungen in ihm die Oberhand gewinnen. 

Mais pourquoi me livrer A des transports affreux: 
Depuis que je ressens sa devorante fläme, 

Les plus cuisans soucis ont dechireE mon äme; 
Barbare pour Griselde, et toujours furieux, 

On me voit sans pitie la bannir de ces lieux, 
Isabelle me hait, Isabelle m’outrage; 

Ah, sortons pour jamais d’un si dur esclavage; 
Jai forme& mille fois ce genereux dessein, 

Faut-il que la raison me parle encore en vain? 


Der Deus ex machina erscheint in Gestalt eines Offiziers, 
der einstens Griseldens Kind zur Herzogin von Florenz ge- 
bracht hat und jetzt ein Schreiben von dieser hohen Dame 
überbringt. „Elvire, die Wärterin ihrer gleichalterigen Tochter, 
hat vor ihrem Tode gebeichtet, dass sie Isabelle für die ge- 
storbene Tochter der Herzogin untergeschoben hat, um ihr 
herben Schmerz zu ersparen. Und diese Tochter ist Isabelle, 
die sich jetzt am Hofe aufhält.“ Gross ist die Freude Grisel- 
dens und Isabellens, der Fürst sieht ein, welchen Schatz der 
Himmel ihm in seiner treuen Frau geschenkt hat, zur Belohnung 
für seine Kriegstaten erhält Federic vom Fürsten die Hand Isa- 
bellens, die nun urplötzlich seine Tochter geworden ist, Alles 
freut sich und mit den Worten des Fürsten: 


Montrons ä mes Sujets cette jeune Princesse; 
Allons porter la joie oü r&gnoit la tristesse. 


endet das Stück 


Griselidis in der französischen Literatur. 6] 


Das 18. Jahrhundert hatte jedenfalls eine andere Auffassung 
von der Comedie als wir heutzutage. Come&die war der Name 
für jedes Schauspiel, das einen guten Ausgang hatte. Es 
ist wohl angebracht, den "Masstab der damaligen Zeit an 
das Werk der Madame de Saintonge anzulegen. Wollten wir 
es mit dem modernen messen, so wäre mit einigen Worten 
über das Machwerk das vernichtende Urteil gefällt, das es ver- 
dient. Der Einfluss der von Boileau in seinem „Art poetique“ 
aufgestellten Regeln ist unverkennbar. Von vornherein ist fest- 
zustellen, dass Me de Saintonge bald die Vorschriften Boileaus 
über die trag&die, bald die über die comedie befolgt hat. 

Als erstes Erfordernis für den Lustspieldichter stellt Boi- 
leau das Studium der Natur auf. Zu der Zeit, wo eine Hermione 
noch alle Gemüter der Gebildeten entilammte, war da etwa der 
Boden bereitet, eine zweite Fresne und Griselidis auf die Bühne 
zu bringen? Geht doch ihre Ergebenheit und Selbstentäusser- 
ung so weit, dass sie noch den Brautwerber für ihren tyran- 
nischen Eheherrn macht. Das ist nicht mehr Natur, sondern 
eine auf das äusserste Mass geschraubte Unnatur, und in der 
Tat ist von allen französischen Griselidisbearbeitungen diese die 
einzige, die dieses Motiv benützt hat. 

Wohl kennt die Verfasserin auch die Regel Boileaus, dass 
die Darstellung der Liebesleidenschaft der sicherste Weg ist um 
zum Herzen zu sprechen, nun soll sie aber durch Gewissens- 
bisse bekämpit und als eine Schwachheit, niemals als eine 
Tugend dargestellt werden. In vielerlei Hinsicht ist diese Regel 
nur zu getreu, zu buchstäblich befolgt worden. Aller Psycho- 
logie der Liebe schlägt das treue Festhalten der Griselidis an 
ihrem Eheytrannen ins Gesicht, ihre Liebe erscheint uns und muss 
auch der damaligen Welt als die höchste Steigerung weiblicher 
Schwachheit erschienen sein. Beim Fürsten, dessen Liebe nicht 
etwa durch Gewissensbisse bekämpft wird, ist diese Leidenschaft 
nicht nur Schwachheit, sondern Verbrechen: es ist die ganz 
unnatürliche Leidenschaft zu seiner eigenen Tochter, die Stimme 
des Bluts spricht nicht bei ihm. Wenn er sie auch nicht als 
Tochter kennt, so ist die Leidenschaft des älteren Onkels zur 
jüngeren Nichte kaum weniger entschuldbar. Keine Stelle in 


62 Richard Schuster. 


dem Schauspiel lässt darauf schliessen, dass der Fürst etwa 
Griselidis bloss auf ihren Gehorsam hin prüfen wollte oder von 
irgend einem andern Gefühl als dem des vornehmen, kraft 
seiner Stellung alle Rücksichten bei Seite setzenden Lüstlings 
beseelt gewesen wäre. 

Das dramatische Interesse soll sich bei jeder Szene ver- 
doppeln, verlangt Boileau weiterhin. In dieser Hinsicht mag 
die Verfasserin den dramatischen Forderungen entsprechen. 
Gesteigert wird unser Interesse zweifellos bei jeder Szene, wenn 
wir von den mancherlei Geschmacksverirrungen der Verfasserin 
absehen. | 

Unvorhergesehen und schnell soll die Lösung erfolgen. 
Etwas Unvorhergeseheneres und Rascheres als diese Lösung 
können wir uns allerdings kaum denken. Wer würde es im 
Ernste für möglich halten, dass Griselde nicht verstossen, Isabelle 
nicht zu einer sofortigen Heirat gezwungen wird? Grosse Er- 
eignisse sollen bevorstehen: Federic soll Revolutionär werden, 
Isabelle sich töten, Griseldens unsäglich trauriges Geschick für 
immer besiegelt sein. Aus diesem Labyrinth findet sich die 
Dichterin doch noch zurecht, sie zerhaut den wirr verschlungenen 
Knoten und lässt als Retter in der Not den Boten erscheinen, 
der uns über das Verwandtschaftsverhältnis Isabellens zu dem 
Fürsten aufklärt. Diese Lösung ist unnatürlich, nicht im Gang 
der Handlung begründet und verwischt keineswegs den über- 
aus widerlichen Eindruck, den wir vom Charakter des Fürsten 
erhalten haben. 

Der komische Dichter soll ein getreues Bild des Men- 
schen darstellen, den er bis ins Kleinste hinein kennen soll. 
Als notwendiges Hilfsmittel hiezu muss die eingehende Kennt- 
nis der Sitten und Gewohnheiten des Zeitabschnittes dienen, 
in dem die Handlung vor sich geht. 

Im Jahre 1714 wurde unser Schauspiel verfasst; es gab 
genug ausländische und einheimische Fürsten am Hofe Lud- 
wigs XIV. — ihn selber nicht ausgenommen — die Modell zu 
diesem Fürsten hätten sitzen können. Rücksichtslosigkeit und 
frivole Auffassung vom weiblichen Geschlecht sind diesen Für- 
sten insgesamt gemeinsam. 

Der Ton, in dem die Höflinge mit dem Monarchen, ver- 
kehren mussten, um ihm durch die Blume einige Wahrheiten 
zu sagen, ist in unserem Schauspiel gut getroffen und kann 


Griselidis in der französischen Literatur. 63 


auch als Spiegelbild damaliger Zeitsitten dienen. Den Vor- 
schriften Boilaus gemäss sind alle pöbelhafiten Worte vermieden. 
Selbstverständlich ist das Stück streng nach den drei Regeln 
der Einheit des Orts, der Zeit uud der Handlung gebaut. 

Zum Schluss ist noch darauf hinzuweisen, dass die Fabel 
gänzlich ihres Wesenskerns, des Prüfungsmotivs, beraubt ist, 
das ganze Stück dreht sich um die Heirat des Fürsten mit 
Isabelle, der ohne sich um die kirchliche Autorität im geringsten 
zu kümmern (die weltliche repräsentiert ja er), ohne irgend 
einen triftigen Scheidungsgrund, von heut auf morgen seine 
langjährige Gattin verstossen und eine neue Heirat eingehen 
will. Nichts Unwahrscheinlicheres und Roheres hätte dargestellt 
werden können. 

Als Vorzug der Come&die kann höchstens der gewandt 
gehandhabte Alexandriner angeführt werden. Die höfische In- 
triguenhandlung stellt ein getreues Spiegelbild der damaligen 
Zeit dar, und die mancherlei Rührszenen sind offenbar ein Zu- 
geständnis und eine Anpassung an den Geschmack jener Zeit. 
Schwerer fallen die Nachteile ins Gewicht, die sittliche Rohheit 
von Charakter und Handlungsweise des Fürsten ist auf ein bei- 
nahe unerträglich hohes Mass gestiegen. Und dabei geht dieser 
Lüstling völlig straffrei aus; unseren sittlichen Anschauungen 
wird absolut keine Rechnung getragen. 

Die Vertrauten, Hidaspe und Phenice, die Vertreter der 
Vernunft, sind sympathische Figuren und haben die Aufgabe, 
die sittliche Verurteilung des Fürsten zum Ausdruck zu bringen, 
doch können sie uns auch nicht die ungesunde Atmosphäre, 
die über dieser ganzen rohen und krassen Handlung liegt, 
vergessen lassen. 


64 Richard Schuster. 


La Griselde, 
» Tragi-comedie 
Italienne, 
en 5 actes. 
De Luigi Ricoboni,') dit Lellio, Come&dien deS.A R. 
Monseigneur le Duc d’Orleans, Regent du Royaume. 


Das Stück ist eine im Jahre 1717 veröffentlichte Über- 
setzung aus dem Italienischen. Boccaccio wurde herangezogen, 
ferner ist Perrault auf die Liebeshandlung zwischen Rupert und 
Constance von Einfluss gewesen. | 

Der Verfasser schreibt im Vorwort zu seiner Griselde: 


„Cette Piece est la premiere que jaai composde: Le 
sujet en est tir& d’une nouvelle de Boccace; il estoit tres- 
propre pour en faire une Trag&die, mais je me suis toüjours 
trouv& dans la ne&cessite d’en faire une Tragi-Come&die. La 
Tragedie &toit encore bannie du Theatre en Italie lorsque 
je l’Ecrivis, et & present que j’ay l’honneur de la repr&senter 
a Paris, je regarde l’Arlequin comme un personnage neces- 
saire au divertissement du Public; et mon unique attention 
sera toüjours de travailler & meriter la bonte avec laquelle 
il nous a soufferts jusqu’ä ce jour.“ 


Aus dem Dedicationsbrief Riccobonis an den Prinzregenten 
gebe ich einige Stellen wieder, welche die Auffassung des Ver- 
fassers über das Wesen der Tragi-comedie klar legen: 


„... cetouvrage qui par l’assemblage equivoque et bizarre 
de ses parties est indigne du nom de tragedie, et ne peut 
cependant porter celui de comedie. C’est encore un de ces 
monstres enfantes autrefois par notre theätre italien; c’est 
le me&lange d’un spectacle, j’ose dire grand, avec des scenes 
risibles. Alliage que nous sommes contraints de faire pour 
rendre quelque fois notre serieux surportable & des spec- 
tateurs accoütumes A voir sans cesse les personnages comi- 
ques sur notre theätre.“ 


') Riccoboni (1674—1753) zeitweise in Paris, näheres über ihn bei Vapereau. 


Griselidis in der französischen Literatur. 65 


Ich gebe hiemit das Personenverzeichnis der fünfaktigen 
Tragi-comedie wieder. 


Godefroy, Roy de Sicile. 
Griselde, son &pouse. 
Rupert, prince de Salerne. 
Conrade, oncle de Robert. 
Constance 

Oton, Seigneur de la Cour. 
Gianolle, pere de Griselde. 
Pantalon, 
Arlequin, 
Everard, Petit Enfant, Fils du Roy. 


Bas Oftficiers de la Cour. 


Im ersten Akt teilt Konrad der von ihm erzogenen 
Konstanze mit, Griselde werde verstossen werden und sie als 
Königin von Sicilien an ihre Stelle treten. Rupert, der Konstanze 
liebt und von ihr wieder geliebt wird, gibt sie frei und will 
ihrem Glück nicht hindernd in den Weg treten. Godefroy bietet 
kurz darauf Konstanze seine Hand an, selbstverständlich ist sie 
sich einer solch hohen Ehre bewusst und antwortet ihm zu- 
sagend und kokett. Warum Godefroy Griselden allen möglichen 
Prüfungen aussetzen will, erfahren wir aus seinem Zwiegespräch 
mit Konrad: 


„Jai toüjours crü Griselde la plus vertueuse de toutes 
les femmes; mais cette opinion n’a pas empeäche qu’il ne 
me vint quelqueiois dans l’esprit certain soupgon, que l’art 
avoit plus de part A sa vertu que la verite; et que pour 
gagner mon coeur, elle avoit feint d’&tre ce qu’elle n’etoit 
pas en effet. Il y a trois lustres que je l’etudie, et je ne 
comprens pas encore comment une äme si grande, une vertu 
si parfaite, a pü naitre au milieu des bois, et je ne suis pas 
fäche de la mettre & toutes sortes d’Epreuves pour connoitre 
la verite.“ 


Da sein Volk diese Heirat missbilligt hat, so wird es 
Godefroy leicht gemacht, dessen Zustimmung zur Verstossung 
Griseldens zu erlangen, Vor den Höflingen muss nun Griseldis 
ihre Herkunft und ihre Lebensschicksale erzählen. Es folgt die 
bekannte Verstossungsszene. ÖOton soll den jungen Everard 
erziehen. Ein Verführungsversuch Otons, sofort nach der 

5 


66 Richard Schuster. 


Verstossung unternommen, misslingt völlig. Er erhält von 
Griselde die verächtlichste Zurückweisung. 


„Va, je te regarde avec horreur, je ttabandonne ä toutes 
les furies qui doivent punir ton crime; Va scelerat; et scache 
que Griselde est incapable de se d@mentir; et que si elle a 
vecu pour son Roi, elle est toute disposee & mourir pour lui.“ 


Mit einem Monolog Otons, der den Ausblick auf einen 
neuen Verführungsversuch eröffnet, schliesst der erste Akt. 


Im zweiten Akt verlässt Griselde das königliche Schloss, 
um sich in die Wälder zurückzuziehen. Mit erheuchelter Härte 
und Rohheit nimmt Godefroy von ihr Abschied, sie selbst wird 
ohnmächtig, als sie ihrem Söhnlein Lebewohl sagt. 

Eine erneute Verführungsszene Otons misslingt wieder, 
die lockenden Versprechungen, Griselden mit ihrem Söhnlein 
wieder zu vereinen, unter der Bedingung, Oton zu heiraten, 
prallen an ihr wirkungslos ab, und nun stellt der Bösewicht 
der gequälten Frau den baldigen Tod ihres Lieblings in Aussicht. 


Erst im dritten Akt atmen wir freie Landluft, die Hof- 
luft liegt hinter uns. Griselde kommt wieder zurück zu ihrem 
alten Vater Gianolle. Dieser tröstet sie liebevoll, nachdem er 
ihr herbes Schicksal vernommen hat. Zu allem hin kommt 
noch der Arlequin mit dem kleinen Everard und setzt Gri- 
selde davon in Kenntnis, dass er beauftragt sei den Prinzen 
in das Gehölz zu führen und ihn dort den wilden Tieren zur 
Beute zu überlassen. Alsobald kommt auch Oton wieder, der 
den günstigen Zeitpunkt für gekommen erachtet, Griselidis zum 
dritten Male auf die Probe zu stellen. Er zeigt Griselden den 
für den Mord bestimmten Dolch und richtet gleichzeitig folgende 
Befehle an Arlequin: 


„Arlequin, quand je lui auray öte la vie, tu prendras 
son corps, tu le mettras en quartiers, et tu les jettras aux 
bötes dans les endroits du bois les plus &pais.“ 


Die flehentlichsten Bitten der grausam gequälten Frau 
vermögen den Lüstling nicht umzustimmen: da sie ihn nicht 
heiraten will, wird ihr Sohn eines grausamen Todes sterben 
müssen. 


Griselidis in der französischen Literatur. 67 


Doch ist Oton ein weniger grosser Bösewicht, als es 
scheint; der Arlequin weiss genau, dass all dies nie zur Aus- 
führung gelangen wird. Oton gibt trotz aller Fehlversuche 
sein Ziel noch nicht auf, Griselde soll nun entführt werden. 
Arlequin erzählt den Entführungsplan seinem Kameraden Pan- 
talon, von diesem erfährt ihn der König. 


Im vierten Akt trifit Konstanze auf der Jagd Griselde 
in ihrer väterlichen Hütte. Konstanze bittet den König, Griselde 
als eine ihrer Gefolgsfrauen mitnehmen zu dürfen. Unterdessen 
wird Godefroy von dem Plane Otons benachrichtigt, Griselden 
mit Walfengewalt zu entführen. Oton lässt noch einmal alle 
Überredungskünste spielen, um Griselde doch noch für sich 
zu gewinnen. Als Godefroy erscheint, erteilt er den Befehl: 


„Que Pon conduise Oton au Palais et qu’il me laisse 
son Epee.“ 


Auf Konstanzens Bitten hin erlaubt der König, dass Gri- 
selde an den Hof kommen darf. 


Der fünfte Akt führt uns in einen Saal des Königs- 
palastes. Es wird über Oton Gericht gehalten, der König will 
ihm verzeihen, wenn er die volle Wahrheit spricht. Ja, er ver- 
spricht Oton sogar ihm Griselde zur Gemahlin zu geben, falls 
er selbst Konstanze heirate. 

Zur Abwechslung kommt nun eine Liebesszene zwischen 
Konstanze und Rupert. 


„Un autre aura ma main, mais mon cher Rupert aura 
.seul mon coeur.“ 


Griselde weist Konstanze wegen ihres Benehmens rauh 
zurecht. Godefiroy kommt hinzu, er erfährt von Arlequin, was 
vorgegangen ist, und fährt seine einstige Gemahlin, statt ihr 
zu danken, hart an: 


„On voit bien que tu es nee dans les bois. T’en ai-je 
tiree pour Epier les actions des autres: Tu n’es ici que sujette, 
et tu dois oublier la grandeur oü tu as et Elevee, et ne te 
m&ler que de ce qui te regarde.“ 


Der König befiehlt ihr nun gar Oton zu heiraten, sie 
weigert sich standhaft, und nun soll sie wählen zwischen dem 
Tod und Oton. Sie zieht den Tod vor. 


68 Richard Schuster. 


Genug ist es nun des grausamen Spiels. Den plötzlichen 
Glücksumschwung zeigen die Worte des Königs an: 


„Je ne sgaurois plus m’en defendre. Ma chere Epouse, 
leves-vous, venes que je vous embrasse.“ 


Es stellt sich heraus, dass Godefroy genau gewusst hat, 
dass Konstanze seine Tochter ist, Rupert und Konstanze werden 
ein glückliches Paar, Oton erhält Verzeihung und unter den 
Rufen des Volks: „Vive Griselde“ endigt die Tragi-come&die. 


Wirkliche Charaktere besitzt dieses Stück ebenso wenig 
wie Zenos Melodrama, dem Riccoboni im Gang der Handlung 
völlig folgt. Vorsichtiger Weise erwähnt er Zeno nirgends, doch 
kann nicht bezweifelt werden, dass er Zeno inhaltlich alles ent- 
lehnt hat, eine Vergleichung der Inhaltsangaben beider Werke 
lässt dies ohne weiteres erkennen (vgl. die Inhaltsangabe von 
Zenos Melodrama bei Widmann S. Ill, Euphorion Bd. 14). 

Interessant ist durch ihre Motivierung die dem Stück vor- 
“gedruckte officielle Approbation von Houdar de la Motte: 


„Approbation. 

Jay lü par ordre de Monseigneur le Chancelier la Gri- 
selde, piece italienne, traduite en frangois, et jay crü que 
cet Ouvrage feroit plaisir au Public. 

Fait ä Paris ce 6 Juillet 1717. 


Houdar de la Motte.“ 


Griselidis in der französischen Literatur. 69 


Beinahe anderthalb Jahrhundert nach der Tragi-comedie 
wurde eine 


Ballet-Pantomime en 3 actes et 5 tableaux 
Les Cing Sens 


in Paris aufgeführt. Das. von Dumanoir und Mazilier verfasste 
Schauspiel wurde am 14. Februar 1848 auf dem Theater der 
königlichen Akademie für Musik aufgeführt; die Rollen sind 
folgendermassen verteilt: 


Wladislas, roi de Boh&me. 

Le Prince Elfrid, son fils. 

Jacobus, eEcuyer du jeune prince. 

Griseldis. 

Un ambassadeur. 

Hassan, gouverneur de Belgrade. 

Les Femmes d’Hassan. 

Seigneurs Boh@miens et Moldaves. 

Danseuses, Musiciennes, Jardinieres, Chasseurs. 


Das Personenverzeichnis lässt schon den berechtigten 
Schluss zu, dass wir es keineswegs mit der traditionellen Gri- 
selidis zu tun haben. Eine kurze Inhaltsangabe lässt dies ohne 
weiteres erkennen. | 

Elfrid und Griselidis sind die Hauptpersonen der Hand- 
lung. Diese ist vollständig ihres Wesenskerns, der Prüfungs- 
motive, beraubt, ihren einzigen Hebel bildet die Liebe Elfrids 
zu einem feenhaften Wesen, das er im Traume geschaut, und 
das ihm später zwei Mal in anmutigen Verkleidungen er- 
schienen ist. 

Ein Gesandter des Gouverneurs von Belgrad kommt als 
Brautwerber zu dem König von Böhmen und wünscht Elfrids 
Zusage zu der Heirat mit der Tochter seines Herrn. Elfrid 
muss der Staatsklugheit ein Opfer bringen. Im Harem zu 
Belgrad angelangt, achtet er all der sinnberückenden Pracht 
um ihn her nicht, wieder und wieder weilen seine Gedanken 
bei der Traumgestalt. Da erscheint sie ihm wieder verkleidet, 


70 Richard Schuster. 


er spricht sie, nun ist sein felsenfester Entschluss gefasst, nur 
sie will er heiraten. 

Bald naht sich Elfrids Vater, der Sohn erklärt ihm, er 
wolle seine Verlobung auflösen, seine noch nie geschaute Braut 
nähert sich; Elfrid will auch ihr seinen Entschluss, sich nicht 
mit ihr zu verloben, kund tun. 

„La Princesse parait enfin, couverte d’un long voile... 
Elfrid s’elance vers elle... Mais il s’arrete, muet de sur- 
prise et de bonheur, en reconnaissant la voix qu’il a deux 
fois entendue, et qui lui chante encore: 

Arrete, enfin arrete 
Ne’'quitte pas ces lieux! 


Je suis la voix secrete 
La voix qui vient des cieux. 


Le voile tombe. La princesse, c’est Griselidis elle-m&me qui 


tend la main au jeune prince et lui montre son anneau de 
fiancailles.* 


Die Traumgestalt ist also Griselidis, die Tochter des Gou- 
verneurs von Belgrad, Elirids Braut. 

Diese Inhaltsangabe zeigt, in wie loser Berührung diese 
Griselidis zu allen anderen Griselidisbearbeitungen epischer 
oder dramatischer Art steht. 


Griselidis in der französischen Literatur. 71 


Ostrowskis Griselidis. 


Ein besseres Drama als die eben behandelten ist zweifellos 
das Werk des polnischen Flüchtlings Ostrowki,!) welches auch 
vor dem Forum der Ästhetik mit grösseren Ehren bestehen wird. 

Acht Tage nach der am 17. März 1849 sattgehabten Erst- 
aufführung der Griselde am Theätre de la Gaite schreibt Anais 
Segalas in seiner Preface zur Griselde: 


„Le drame de Griselde ne se passe point du temps que 
la reine Berthe filait, il faut remonter encore un peu plus 
haut: la fameuse Berthe, fille de Lothaire, roi de Lorraine, 
filait au Xe siecle, et M. Ostrowski nous transporte en Angle- 
terre, A la cour du roi Artus, contemporain de Charlemagne. 
Nous voilä sur le terrain fleuri de la l&gende, au milieu des 
chevaliers de la Table Ronde. Il etait impossible de faire 
un choix plus poetique; c’est un grand merite au theätre 
de s’emparer d’un siecle vraiment neuf, et d’etre un des 
premiers dä en secouer la poussiere. Nous sommes tellement 
fatigues de voir sans cesse exploiter les m&mes E&poques! 
Les Romains ont use sur la scene leurs vieilles toges, qui 
ne sont bonnes aujourd’hui qu’& leur faire des linceuls; 
l’eternelle Saint Barthelemy a trop souvent assomme des 
spectateurs bons catholiques, en les traitant comme des hugue- 
nots, et le duc de Richlieu nous a jet€ plus de cent fois sa 


!) Der Dichter und Schriftsteller Graf Chr. Jos. Ostrowski ist in Uiazd, 
bei Rawa in Polen, im Jahre 1811 geboren und 1882 in Lausanne gestorben. An 
der polnischen Erhebung vom Jahre 1830 nahm er ruhmwollen Anteil und wanderte 
dann nach Frankreich und Belgien aus; nachdem er im Jahre 1837 den belgischen 
Offiziersdienst aufgegeben hatte, lebte er fortan in Paris und dann in Lausanne. 
In französischer und polnischer Sprache hat er hauptsächlich Dramen und Ko- 
mödien geschrieben, von denen mehrere in Paris aufgeführt wurden, und von 
denen viele in seinem Theätre complet (1852) erschienen sind. Von ihm rühren 
ausserdem her: Legendes du Sud par un homme du Nord (1863); Larmes d’exil, 
poesies (1867); Le massacre de Praga (1866): Jean Sobieski, drame (1876); 
Deuvres choisies (1875) etc. In polnischer Sprache hat er die polnischen Jamben 
(1863) und Theaterstücke, yrösstenteils Umarbeitungen von fremden Schriftstellern, 
verfasst (s. Larousse illustre VI, 569). 


12 Richard Schuster. 


poudre aux yeux. Salut donc aux chevaliers de la Table 
Ronde!“ 


Von Ostrowskis Griselidis sind mir zwei Ausgaben be- 
kannt. Die eine, nach der ich im folgenden zitiere, befindet 
sich im Theätre complet von Chr. Ostrowski vom Jahre 1852, 
die andere lag mir in der Originalausgabe vom Jahre 1849 in 
der Nationalbibliothek zu Paris vor. Die Abweichungen dieser 
Originalausgabe vom Druck von 1852 gebe ich in Anmerkungen 
wieder. Die Abweichungen zwischen den beiden Ausgaben 
beziehen sich nur auf die Form, nicht auf den Inhalt. (Vergl. 
hierüber im folgenden die Anmerkungen.) 

Am Hofe des Königs Artus spielt sich inmitten der Ver- 
gnügungen eines Nachtiestes der erste Akt ab. Perceval 
kommt mit seinem Freunde Tristan nach dreijähriger Abwesen- 
heit wieder an den Hof, ohne dass die schönen Damen irgend 
welchen Eindruck auf ihn machen. Er, „le superbe etranger au 
front päle, aux cheveux flottans sur ses epaules“, hat auch für 
.die schöne Ginevra, die er einst geliebt, keine Augen mehr. 

je Paimais autrefois d’un amour plein de fievre, 
Comme on aime ä 20 ans! pour ces regards vainqueurs 
Dont la douce magie embrasait tous les coeurs, 

Pour son nom de Ginevre, et plus que tout encore, 
Pour ce maintien royal qui toujours la decore. 

Ihr sträflicher Übermut, der das Leben Percevals einer 
Laune geopfert hätte, hat seine Liebesglut abgekühlt, abge- 
schüttelt hat er die Bande, die ihn an sie fesselten. Schillers 
Gedicht „Der Handschuh“ hat O. in etwas veränderter Form 
aufgefrischt. Diesmal wirft Ginevra einen Blumenstrauss in die 
Arena hinab, Perceval, ihr Getreuer, holt ihn ihr aus den Krallen 
der sich zerfleischenden Löwen heraus. Rasend ist der Beifalls- 
sturm der Versammlung; doch noch am selben Tag ist Percevals 
Herz Ginevra auf ewig verloren. 

Manche Jahre sind seitdem ins Land gezogen, eine Gri- 
selidis hat jetzt einer Ginevra Platz eingenommen. Nach drei 
Jahren glücklicher Ehe erscheint Perceval wieder inmitten des ver- 
derbten Hofes. Ginevras und der andern Neugierde wird durch 
Gauvin befriedigt, der die Heirat Percevals mit der Tochter 
Cedrics, eines einfachen Köhlers, den skandalsüchtigen Männern 
und Frauen der Tafelrunde erzählt. Nicht lange braucht die 
zungengewandte Königin, um durch Stichelreden den rauhen 


Griselidis in der französischen Literatur. 73 


Ritter Perceval selbst mit der Devise „Fais-ce que dois, et dis 
ce que fais“ zu veranlassen, die Geschichte seiner Liebe zu 
erzählen. 

So erfahren wir denn, dass die normännische Flotte drei 
Jahre vor dem Zeitpunkt unserer Handlung am Kap Stafford 
Schiffbruch gelitten hat und Perceval samt seinem Gegner, 
einem normännischen Anführer auf ödem Ufer schwer ver- 
wundet einem schmählichen Tode verfallen gewesen wäre, hätte 
ihm nicht der freie Seemann und Köhler Cedric durch opfer- 
willige Pflege das Leben gerettet. 


Sa fille.... Ah! je renonce ä tracer son portrait! 
Quel peintre ou quel pö£ete oserait vous d&crire 

Sa beaute de Madone et son jeune sourire ? 

Si jamais un archange envoy& du Seigneur 
Paraissait ä nos yeux, cet esprit de bonheur 
Aurait un corps pareil ä celui qui l’abrite; 

La beaut& n’est pourtant que son moindre merite, 
C’est la splendeur d’une äme immortelle! . . le jour 
Oü naissant d’üne &toile au celeste sejour 

Ce chef d’oeuvre Echappa de sa main satisfaite, 
Dieu lui baisa le front et lui dit: „Sois parfaite!“ 
Jamais forme plus belle, esprit plus radieux, 

Ne porta le reflet du souverain!) des cieux. 


Un jour, je la vis dans son tartan de laine 

Pres de Cedric, son pere, et de sa mere Helene 
Qui n’en detachait pas ses regards amoureux. 

Je compris qu’elle Etait tout l’univers pour eux. 
Ce moment decida du destin de ma vie; 

Je m’arrötai, le coeur &mu, l’äme ravie; 

Et cet enchantement soudain me revela 

Que Griselde, la soeur de mon äme, &tait lä! 

Je lui dis, m’inclinant sur sa töte charmante: 
„Griselde, saurais-tu m’aimer comme une amante ?* 
Elle leva sur moi des yeux pleins de langueur, 
Dont l’humide rayon penetrait tout mon coeur, 

Et m’offrant une rose avec un trouble extr&me, 

Fit un signe leger qui disait: „Oui. je t’aime!“ 
Griselde, ai-je ajoute, tombant ä ses genoux:?) 
Veux-tu m’etre fidele ainsi qu’ä ton &poux 

Quand je serais proscrit du pays oü nous sommes 


I) createur. 
2) a deux genoux. 


74 Richard Schuster. 


Desherite, maudit du ciel, maudit des hommes? 

— ÖOui, seigneur, je le veux: — Griselde viens ä moi, 

Luis dis -- je avec transport: je te donne ma foi 

Le ciel m&me est jaloux du bonheur!) qui m’enivre 

Veux-tu quitter ton pere et ta mere, et me suivre ?* 

Elle tomba muette aux bras de ses parens. 

Mais ses pleurs repondaient pour elle: Oui, je me rends 
Alors?) m’ayant donn& cette fleur ephemere 

Pour l’anneau nuptial que je tiens, de ma mücre, 

Griselde fut conduite au bourg de Pendenny, 

Oü par ’homme de Dieu notre hymen fut b£ni, 

Je lui vouai’) mon coeur, ma pensde et mon äme 

Voila comment Griselde est aujourd’hui ma femme. 

(1, VI.) 


Ginevras Absicht Perceval vor allen wegen seiner Heirat 
mit dem Köhlerkinde zu beschämen, ist misslungen. Im Gegen- 
teil hat sie nur erreicht, dass die leidenschaftliche Liebe zu 
seiner Gattin mit elementarer Gewalt in seinen Worten zum 
Ausbruch kommt. Kein Wunder, dass Ginevra Perceval auf- 
fordert, dieses Muster edler Weiblichkeit bei Hofe vorzustellen. 
Eine Griselidis passt jedoch nicht zu dieser frivolen Gesell- 
schaft, und rundweg lehnt er dieses Ansinnen der Königin ab, 
die nun nichts besseres zu tun hat, als die Lösung dieser un- 
würdigen Verbindung durch den König in Aussicht zu stellen 
und Perceval durch geringschätzige Bemerkungen über sein 
Weib gröblich zu beleidigen. Der Streit spitzt sich dermassen 
zu, dass Lancelot, die Partei der Königin ergreifend, Perceval 
seinen Handschuh ins Gesicht schleudert. Ein Duell muss die 
notwendige Folge dieser Beleidigung sein, doch trennt der 
Grosseneschall Gauvin auf Befehl der Königin die Streitenden. 
Perceval fürchtet eine Ginevra nicht, mannhaft tritt er weiter 
ein für seine Gattin: 


Je ne crains pas vos regards nmıeprisans; 

Et je l’atteste ici devant vos courtisans 
Comme je le dirais devant le roi lui-meme; 
Que si le seul honneur donnait un diademe, 
Griselde serait reine: et vous, madame, vous 
Qui raillez sa vertu, seriez ä ses genoux! 


!) Que le ciel soit temoin du bonheur. 

”) Alors, pour cette rose, acceptant en Echange 
L’anneau de notre möre, aujourd’hui mon bon ange. 

?%) donnai. 


Griselidis in der französischen Literatur. 75 


Der durch den Waifenlärm vom Schlaf erweckte König 
Artus will Perceval unter der Bedingung eines Kniefalls vor 
der Königin verzeihen, dass er in ihrer Gegenwart sein Schwert 
gezogen hat. Doch solch ein stolzer Ritter beugt seine Knie 
nicht vor einer Ginevra.. So muss denn das von Gauvin vor- 
gelesene Gesetz in Kraft treten: 


„Pour lese majeste, 


Le criminel d’Etat mourra decapite. 

Si l’offense remonte ä I’'honneur de la reine, 
La femme du coupable est soumise ä la peine 
Du cloitre et de l’exil.“ 


Wäre Ginevra nicht auf sonderbare Weise vermittelnd ein- 
vetreten, so hätte das barbarische Gesetz in Anwendung kommen 
müssen. „Wenn Perceval uns den Beweis erbringt, dass Gri- 
selidis an meiner Statt Königin wäre, falls das Diadem immer 
der Preis der Treue wäre, so nehme ich sein Urteil an“, sagt 
die ränkesüchtige Ginevra und lässt Gauvin die Bedingungen 
niederschreiben. 

Ginevre, a Gauvin.') 
Vous, messire, eEcrivez. „Ordonnons que demain 
Griselde, ayant livre son fils par votre main, 


Soit rendue & son pere, Epouse abandonnee, 
Pauvre et sans vetement, comme il vous l’a donnee.“ 


Perceval ä 
Apres!.... 


I!) Griselde connaitra la sentence du comte: 
Et pour le preserver de Vexil, de la honte, 
Elle enverra son fils au roi, par votre main. 
Nous ordonnons que Griselde, demain, 
Soit rendue a son pere, esclave abandonnee 
Pauvre et sans vetement, comme il vous Pa donnee! 


Nous voulons que sans fiel, sans courroua, 
Griselle, ayant quitte son fils, son pere et vous, 
Se resigne d mourir captive, au fond d’un cloitre. 
Son amour Eprouve de ses pleuwrs doit s’accroitre; 
Et malgr& vos m£pris, paraitra sans defaut, 
Comme ce diamant. 


Si Griselde obeit sans oryueil et sans haine, 
Je me jette ü ses pieds, moi Ginevre, moi reine! 
Si sa fidelite, Tui conte un send remord, 
Pour votre fils Vexil; pow Griselde, la mort! 


76 Richard Schuster. 


Ginevre. 
„Pour vous soustraire & l’arr&t souverain, 
Griselde, ayant quitte Cedric, le vieux marin, 
Doit se r&soudre A vivre esclave au fond d’un cloitre. 
Son amour genereux, de ses pleurs doit s’accroitre; 
Et trois fois Eprouve&, paraitra sans defaut, 
Comme ce diamant.* 

Perceval geht auf die Wette ein. Griselidis soll nun, ohne 
sich zu beklagen, unerträgliche Schmerzen erdulden, sich herz- 
zerreissenden Demütigungen unterziehen und Ginevra wird die 
Kniee vor ihr beugen. Wie konnte er in diese barbarische Wette 
willigen, war seine Liebe wirklich so innig, wie sie uns aus 
seinen Reden entgentritt, was war denn ihr innerstes Wesen? 
Zu deutlich liegt es auf der Hand, es war ein ungeheurer Stolz, 
ihm zu Liebe hat er ohne Skrupel die schrecklichen Beding- 
ungen dieses grausamen Spiels angenommen. 

Mit den Worten Ginevras: 

„Demain, sur cette femme, il faut que je l’emporte, 
Perceval ä mes pieds: si non, Griselde morte.“ 
endigt der erste Akt. 

Die folgenden zwei Akte sind den verlangten Prüfungen 
gewidmet, und in diesen nimmt daher naturgemäss Griselidis 
und ihr Verhalten das Hauptinteresse in Anspruch. 


Der zweite Akt spielt sich im Schloss zu Pendenny ab. 
Griselidis erwartet ungeduldig die Rückkehr ihres Gatten, schon 
ist er drei Tage fort. Nacht ist es geworden, eine einzige 
Lampe spendet in ihrem Zimmer spärliches Licht, ein fürchter- 
licher Sturm tobt draussen, aber unbekümmert um Wetter und 
Graus schläft ihr Söhnlein Richard, voll Mutterglück betrachtet 
sie ihr einziges Kind und betet: 


„Prot&gez, mon fils, puissances £ternelles.“ 


Da ertönt Hörnerklang, Tristan, der treue Freund Percevals, 
erscheint und bringt ihr Kunde von ihrem Vater. Unheilvolle 
Kunde ist es, Schlag auf Schlag wird nunmehr Unglück über 
Griseldens Haupt heraufziehen. Nie kann und wird ihr Cedric 
verzeihen, dass sie ihre Mutter, die sich drei Tage lang aul 
dem Totenlager nach ihrer Tochter gesehnt hat, vergebens hat 
rufen lassen. Mit Verwünschungen über den Stolz ihrer Tochter 
ist sie dann an gebrochenem Herzen gestorben. Vom Vater 


Griselidis in der französischen Literatur. 77 


verflucht, von der Mutter am Totenbett vergeblich gerufen, 
weil der eigene Gemahl mit dem Tode rang und ihrer Pflege 
bedurfte, so wird uns hier eine neue Griselidis vorgeführt, eine 
Griselidis, die zu der lieblichen Griselidis, wie sie uns fast überall 
das erstemal entgegentritt, in grellem Gegensatz steht. 

Nun erst beginnt nach diesem Vorspiel die Prüfung, zu- 
vörderst wird ihr ihr Sohn entrissen werden. Ihr Gatte ist 
zurückgekommen, unheimlich bleich schaut er aus, und sie ahnt 
kommendes Unheil. Ihren Gedanken gibt sie beredten Ausdruck, 
und niederschmetternde Antwort wird ihr zu teil. Nicht glauben 
kann es die unglückliche Griselidis, dass der König ihre Ehe für 
ungültig erklärt und ihrem Gatten bei Strafe des Bannes geboten 
hat, ihr Söhnlein seinen Händen auszuliefern. Für Spiel und 
Spott hält sie alles, ihre Klagen und Bitten hätten einen Stein 
erweichen können, Perceval jedoch bleibt fest. 

Et vous, mon noble Henri! vous livrez votre enfant, 
L’espoir de vos amours, votre reflet vivant 

Oü vos traits, confondus avec ceux de sa me£re, 
Appellent nos baisers sur sa tete si chere. 

Pour quel crime inconnu ce pauvre ange!) si beau 
Doit il fuir du sommeil dans la nuit du tombeau? 
Il est la, souriant, sous les ailes d’un songe; 

Mais je le savais bien,?) ce n’etait qu’un mensonge. 

Mit aller ihr zu Gebote stehenden Energie verteidigt sie 
ihr Kind und will eher mit ihm sterben, als es einem unge- 
wissen Schicksal preisgeben. Da greift ihr Gatte, um doch 
noch den Sieg zu behalten, zu einem unwürdigen und ver- 
werflichen Mittel. Er erklärt, sein eigenes Leben sei durch des 
Königs Acht und Bann verwirkt, wenn Griselde die Auslieferung 
Richards verweigere. Nun gibt sie nach, 

Seine Handlungsweise sucht Perceval in einem nachfolgen- 
denden Monolog zu rechtfertigen, woraus wir wieder sehen, 
dass sein Stolz das eigentliche Motiv aller Proben ist. Auch 
ihm hat das Herz geblutet bei dem Auftritt, doch die Königin . 
wird die Kniee vor Griselidis beugen müssen und alle Höflinge 
werden sarkastisch lächelnd Zeuge dieser Demütigung sein und 
nach dem Tode von Artus wird er König und sie Königin werden. 

Der zweite Teil des zweiten Akts gilt der Verstossung 
Griseldens. Eine komische Scene zwischen Kenneth und seiner 


1) enfant. 
2) vous le voyez bien. 


78 Richard Schuster. 


lünfzigjährigen Gattin Elinor lässt unsern Geist von den vorhin 
geschauten grausigen Bildern etwas ausruhen. Kenneth ist ihrer 
überdrüssig und wird deshalb von ihr geschlagen; er macht einen 
Selbstmordversuch und fällt glücklicherweise nur auf einen 
Blumenwasen. Ginevra ist inzwischen erschienen. In ihrem 
und ihrer Höflinge Beisein teilt Perceval seinen Vasallen, Gri- 
selidis und ihren Frauen die Nichtigkeitserklärung seiner Ehe 
mit der Köhlerstochter durch den König mit. Seinen Worten 
verleiht er Nachdruck dadurch, dass er seinen Hochzeitsring 
zerbricht. Keinen Eindruck machen auf ihn die Worte seiner 
Gattin: 

„Mais parlez, messeigneurs, parlez donc! qu'ai-je fait ?* 
noch das Gnadeflehen von Frauen aus dem Volke. In schroffem 
Tone fordert er sie, die jetzt nur noch seine Vasallin sei, zur 
Herausgabe aller Geschenke auf, die er ihr einstens gemacht, 
und erlaubt ihr nur die von Cedric, ihrem alten Vater, erhaltenen 
Gaben mitzunehmen. Niemand verteidigt sie, so gibt sie denn 
alles hin und scheidet mit den Worten: 

„Humble fille des champs, je quitte son palais 

Comme ces fleurs, mourante et brisee avant l’heure! .... 

Ma place A moi, ne fut jamais dans sa demeure!* 

Nur noch ein wollenes Kleid verbleibt ihr, und mit der 
Hoffnung, dass er einst bereuen wird, was er ihr zugefügt, 
verlässt sie ihn mit dem Wunsche, eine andere möge ihn glück- 
licher machen, als sie es verstanden habe. Ginevra selbst, diese 
Teufelin, kann nicht umhin, Griselidis zu bewundern, doch 
hindert sie das nicht, ihr auch noch die letzte Probe aufzuerlegen. 


Im dritten Akt erfährt der 80 jährige Cedric die Schick- 
sale seiner Tochter von Ogier. Als sie im nächsten Augenblick, 
Gnade heischend, selbst vor ihn tritt, verweigert er, der sie 
noch kurz vorher verflucht hat, ihr jegliche Anerkennung und 
Verzeihung. Noch harren der armen Griselidis grausamere 
Qualen, noch soll sie sich stärkeren Prüfungen unterziehen 
Gauvin weiss sich eine Unterredung mit ihr zu verschaffen 
unter dem Vorwand, es handle sich um das Leben und die 
Ehre Percevals. Der Urteilsspruch an diesem soll nicht voll- 
streckt werden, wenn sie ihre Tage im Kloster beschliesst, 
ausserdem will der König noch, dass ihr Sohn Richard mit 
einem giftgetränkten Dolch, den Gauvin besitzt, aus dem Leben 


Griselidis in der französischen Literatur. 79 


geräumt wird. Doch Gauvin kann sie retten. Ein skandinavisches 
Schiff ist im Hafen von Stafford verankert, dieses soll sie weit 
wegführen von Perceval, den er hasst wie keinen auf der Welt, 
denn er hat ihn, Cathmor-le-Geant, den Sohn der skandina- 
vischen Könige, auf einem normännischen Schiff zum Gefangenen 
gemacht. Vergebens hat er den Tod gesucht, aber seit dem 
Tage, wo er Griselden aus ihrer väterlichen Hütte heraustreten 
sah, liebt er sie, nun will er nicht mehr sterben. 


Griselde! A vos genoux 

Je demande piti& pour Richard et pour vous! 

Sur le Nord, ma patrie, oü l’amour vous entraine 
Comme sur mon vaisseau, vous serez souveraine! 
Votre fils nous attend: il nous suivrat) toujours. 
Jai de l’or, ’avenir nous promet de beaux jours; 
Vos pleurs, je les taris: vos chaines, je les brise 
Je vous aime!... je t’aime. 


Jäh erwacht er zur rauhen Wirklichkeit, als das Wort 
Griseldens „Et moi, je vous meprise“* ihm entgegentönt. Als 
Gauvin zur Gewalt schreitet, erscheint plötzlich Ginevra, das 
schwer bedrohte Weib fleht sie um Rettung an, Ginevra befiehlt 
ihr aber höhnisch, Perceval, den sie hier verborgen halte, 
herauszugeben. 


Il t’a pris tout au monde: espoir, patrie, hormeur ... 
Sa libert€ du moins paiera pour ton bonheur!?) 


Da aber die Königin ihren Zweck nicht erreicht, so greift 
sie zur Gewalt und befiehlt Griselde nach Staffort zu führen. 


Je vais donc prier Dieu pour lui, dans ma retraite,‘) 
Pour vous aussi, madame!... Il me sera perrmis 


t) Votre fils avec nous reuni pour toujours. 
2) Venge-toi, prends ses jours enfin, pour ton bonheur! 
*) Je suis prete: 
Je pourrai prier Dieu pour lowi: dans ma retraite 
Au sein du monastere ou je vais m’enfermer 
Il me sera permis de souffrir et daimer .... 
J'entendrar prononcer son nom: Jen serai fire! 
Peut-etre, quelque jour, dans un flot de poussiere 
‚Je verrai son panache ondoyant a mes pieds; 
J’appellerai mes soewrs, et je dirai: „Voyez, 
C'est lui qui m’aimait tant! Un jour, je me rappelle, 
Son coeur m’a prefere Vamante.la plus belle: 
La patrie! ...“ Et fidele au premier souvenir, 
En etendant la main, je pourai le benir. 


80 Richard Schuster. 


D’appeler ses bienfaits sur tous nos ennemis ... 

Ecoutez! .. . l’Angleterre est libre! .... oui, j’en suis fiere! 
Voyez grandir, la bas, ce torrent de poussiere, 

Ce panache de flamme ondoyant A mes pieds!... 

C’est lui, mon Perceval! .... Venez, vous me trompiez. 

Mes soeurs, il m’aime encore! Un jour, je me rappelle, 
Son cour m’a preiere l’amante la plus belle: 

La patrie!... Et ma main qui tremble au souvenir 

De nos amours, s’etend vers lui, pour le bEnir! 

Gegen so viel Liebe und Stolz, gegen den Zauber ihrer 
liebreizenden Stimme kann sich selbst eine Ginevra nicht 
länger verschliessen und bangen Herzens sieht sie die Stunde 
kommen, in der sie ihre Kniee vor dem Kinde des Volkes 
beugen muss. 

Cedric wird von Wachen hereingeführt und von Ginevra 
auf seine Tochter aufmerksam gemacht. Der alte Mann macht 
seinem Herzen Luft, wird ausfällig gegen die feigen Höflinge 
und segnet Gott, dass er ihm das Augenlicht geraubt hat, da- 
“mit er die berüchtigte Königin nicht sieht; und nun wendet er 
sich noch gegen seine unglückliche Tochter und verflucht sie. 
Das ist zu viel für Griselidis, das erträgt sie nicht länger, das 
Gift, das sie Gauvin genommen, führt sie zu den Lippen und 
stirbt. Perceval kommt in Begleitung von Artus und Gefolge 
eben noch recht, um von seinem sterbenden Weib zu erfahren, 
Gauvin habe ihr das Gift gegeben, das der König für ihren 
Sohn bestimmt habe. Nun hat auch die Stunde dieses Böse- 
wichts geschlagen. Vom König verstossen, stirbt er von der 
Hand Percevals. 

Die letzte Szene zeigt uns, wie Lancelot, der Liebhaber 
Ginevras, von Artus verstossen wird, und wie Perceval die 
sterbende Griselidis mit Erfolg um Verzeihung anfleht. Artus 
setzt Richard zum Erben ein, umarmt den alten Cedric, zwingt 
Ginevra im Beisein aller Ritter die Kniee vor dem reinen Frauen- 
bilde zu beugen und setzt ihr selbst die Krone auf. 


Griselidis in der französischen Literatur. gl 


Eligius Franz Joseph Freiherr von Münch-Bellinghausen, 
bekannter unter seinem Schriftstellernamen Friedrich Halm, hat 
ım Jahre 1835 ein dramatisches Gedicht Griseldis!) veröffent- 
licht, das mit grossem Erfolg auf dem Wiener Burgtheater auf- 
geführt wurde. Mit dieser Halmschen Griseldis stimmt nun in 
allen wesentlichen Punkten die Ostrowskische Griseldis überein, 
so dass die Annahme völlig gerechtfertigt ist, Ostrowski habe 
Halms Arbeit gekannt und sie zur Ausarbeitung seines Dramas 
ausgiebig benutzt: Ein Vergleich zwischen Ostrowski und 
Halm wird den Beweis der aufgestellten Behauptung erbringen. 

Der Schauplatz ist in beiden Dramen derselbe. Zuerst ist 
es die Königsburg zu Wales und hierauf Percevals Burg Pen- 
dennys. Auch ein Blick auf das Personenverzeichnis überzeugt 
uns, dass wir König Artus nebst den bekannteren Rittern seiner 
berühmten Tafelrunde vor uns haben. Die schönen, leicht- 
fertigen Frauen fehlen ebensowenig, Ginevra, Artus’ Gemahlin, 
trit aus ihren Reihen hervor. Als Gegensatz zu diesem Hofe, 
„dem Tummelplatz leichter ritterlicher Minne“, tritt uns Griselidis 
gegenüber, das Ideal ehelichen Gehorsams und ehelicher Treue. 
Perceval mit seinem Büffelwams und der immer traurigen Stirn, 
dem bei Ostrowski sein treuer Freund Tristan wie ein Schatten 
folgt, lässt diesen Gegensatz noch mehr hervortreten. Be- 
merkenswert ist, dass sämtliche Personen in beiden Dramen 
an Zahl dieselben sind, wenn auch ihre Rollen dann und wann 
abgeändert sind. Doch die dem Drama zu Grunde liegende 
Idee ist bei Ostrowski durch Hinzufügung neuer Züge, durch 
Zurückgreifen auf Percevals Jugend und seine Beziehungen zu 
Ginevra und deren Abbruch, nicht unwesentlich verändert wor- 
den. Wir können keineswegs bedauern, dass der eigentliche 
tiefere Grund, der zum Abschluss der verhängnisvollen Wette 
führt, bei Ostrowski die Eifersucht eines Weibes bildet. Meiner 
Ansicht nach ist dadurch der Hass Ginevras auf Griselidis viel 
verständlicher geworden, und das Ganze hat, wenn auch nicht 


1) Tnhaltsangabe und literarische Würdigung von Halms Griselidis siehe bei 


Westenholz (S. 129 ff.) wul Widmann (8. 116 f.). 
6 


82 Richard Schuster. 


an Humanität, so doch an Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit 
gewonnen.!) 

Wie verhält sich die dem Drama zu Grunde liegende Idee 
zu der Darstellung der handelnden Personen? 

Vor allem interessieren uns etwa zu Tage tretende Uhnter- 
schiede zwischen der Charakterzeichnung des Halmschen Per- 
ceval und der des polnischen Flüchtlings. Verachtung gegen 
alle Hofetiquette, ruhmreiche Vergangenheit, unbändigen Ehrgeiz 
und Stolz haben beide gemeinsam. Ihre Ansicht über die Frau 
und ihren Beruf ist im wesentlichen gleich, wenn auch das 
französische Drama weniger wortreich und weniger streng sich 
ausdrückt. 

Ostrowski und Halm missbilligen es, dass eine Frau*) ein 
solches Wissen besitzt, um in den Sternen lesen zu können: 


Qu’en penses-tu, Tristan’? 
Le savoir chez la femme est l’oeuvre de Satan; 
Il lui ravit bien plus qu’il ne donne peut-£Etre 
Eve a perdu le ciel pour vouloir trop connaitre: 
L’innocence et l’amour, voilä sa royaute. 


Als treubesorgter, liebevoller Gatte, der sich nicht schämt 
seine Anhänglichkeit und seine Sehnsucht nach Weib und Kind 
einem Waffengefährten gegenüber ohne weiteres einzugestehen, 
tritt uns Perceval bei Ostrowski entgegen. Bei Halm weist 
er voll stolzer Entrüstung die von Tristan geäusserte Vermutung 
zurück, er sehne sich wohl nach seinen Lieben zu Haus. Die 
Episode mit dem Löwenzwinger ist bei Halm nicht zu finden, 
ist aber, wenn auch nur eine Entlehnung aus Schiller, doch 
wesentlich zur Charakterbeurteilung Percevals, der mit einem 
allen äusseren Gefahren Stirn bietenden Mannesmut doch nicht 
aus Liebe zu einer Ginevra zu ihrem willenlosen Sklaven herab- 
sinkt. Bei Halm missfällt uns trotz aller Iyrischen Schönheiten . 
bei dem Bericht Percevals über seine Vermählung, dass es 
lediglich dem Einfluss des Weines zuzuschreiben ist, wenn 
Perceval „jegliches Geheimnis seiner Seele leichtgeflügelt auf 
den Lippen schwebt,“ Mit Recht sieht v. Westenholz „in dieser 


') Das Motiv der Eifersucht der Königin ist im Lai von Lanval vorge- 
bildet, den Halm vielleicht gekannt hat, vgl. die Lais der Marie de France (Bill. 
Norm. IID) 8. CVIT f. uud S. 86 f.. ferner Widmann 8. 125 Ann. >). 

?) Bei Ostrowski ist es Oriane, der Königin Schwester, bei Halm Morgane, 
des Königs Schwester. 


Griselidis in der französischen Literatur. 83 


Art der Motivierung einen Fehler gegen die dramatische Kom- 
position. Die ganze Erzählung Percevals, seine Beleidigung 
der Königin und was daraus folgt, kurzum nicht viel weniger 
als das ganze Stück scheint so auf einem Zufall zu beruhen. 
Wer weiss, wie alles gekommen wäre, hätte der Held um einjge 
Becher Weins weniger getrunken.“ 

Ostrowskis neue Motivierung verdient demgegenüber An- 
erkennung. Wir begreifen die Neugierde einer Ginevra besser 
ım Hinblick auf ihr früheres Verhältnis zu Perceval. Nachdem 
dieser noch ganz einfach über sein Frauenideal sich ausge- 
gedrückt hat, 


Je r&vais une femme 
Tendre, aimante, soumise; et celle-lä, madame 
Je ’aurais vainement cherchde & votre cour. 


folgt die reizende Erzählung über sein erstes Zusammentreffen 
mit Griselidis, die von der Halmschen in den Einzelheiten voll- 
ständig abweicht. Auch bestürmen ihn seine Mannen nicht, 
sich zu vermählen. Ostrowskis Stück ist meines Wissens das 
einzige, in welchem der Graf sie nicht auf der Jagd trifft. 

Die Fassung des Gehorsamsversprechens bei Halm!) ist 
der bei Ostrowski entschieden vorzuziehen, weil sie der ganzen 
sinnigen Schilderung eher angepasst ist als die an Iyrischer 
Schönheit Halm kaum nachstehende Ostrowskische Darstellung. 
Wir haben unwillkürlich die Empfindung bei den folgenden 
Worten Percevals, dass Griselden gegenüber eine solche Sprache 
nach dem Vorhergegangenen nicht passt: 

Veux-tu m’ötre fidele ainsi qu’a ton Epoux 


Quand je serais proscrit du pays ol nous sommes 
Desherite, maudit du ciel, maudit des hommes? 


Warum jetzt schon auf kommendes Unheil hinweisen? Ostrowski 
hätte gut getan die einfache und doch entschiedene Halmsche 
Fassung nachzuahmen. 

Die Ereignisse, die zur Beleidigung der Königin führen, 
sind in beiden Dramen ähnlich, und Perceval soll bei Halm für 
alles durch einen Widerrui, bei Ostrowski durch einen Kniefall 
vor der Königin Vergebung erhalten, er demütigt sich jedoch nicht. 

Aus einem Vergleich der Bedingungen bei Halm und 
Ostrowski erhellt, dass nach der Verstossung die Rücksendung der 


1) Siehe Halm S. 42—LH1. 


84 Richard Schuster. 


Griseldis an ihren Vater, sowie die Bestimmung, dass sie hinter 
Klostermauern sterben soll, Zutaten von Ostrowski sind- Schreck- 
lich sind die Folgerungen, die sich aus diesen Abmachungen für 
Griselidis ergeben können, ja ganz widersinnig erscheinen sie 
uns und sind auch mit der Lokalfarbe und mit den barbarischen 
Zeiten, in denen unser Stück spielt, nicht in Einklang zu bringen: 


Si sa fidelite lui cofßte un seul remord,!) 
Pour votre fils l’exil; pour Griselde la mort. 


Und als Gegeneinsatz bei absolutem Gehorsam Griseldens 
will sich Ginevra ihr zu Füssen werfen. Mit der Aufstellung 
einer solch unwahrscheinlichen, barbarischen Bedingung gegen 
einen möglichen Ungehorsam, macht Ostrowski gegenüber Halm 
einen grossen Rückschritt Dieser verlangt nicht etwa un- 
barmherzig den Tod der Griselidis, im Falle ihr Gehorsam 
versagt, sondern nur was vernünftig ist und gerechter und 
billiger Weise verlangt werden kann. Gehorcht Griselidis, so 
beugt Ginevra ihre Kniee vor ihr, misslingt der Versuch, so 
soll der stolze Perceval sich auf gleiche Weise vor der Königin 
demütigen. 


Im zweiten Akt seines Stückes folgt Ostrowski Halm 
im Gang der Handlung fast durchaus. Der verzweifelte Kampf 
zwischen Gatte und Gattin ist bei dem ersteren genau dem 
deutschen Vorbild entsprechend geschildert; und nur dadurch, 
dass Perceval zu dem unwürdigsten Mittel greift und seiner 
Gattin die Wahl zwischen ihm und Richard (Athelstan bei Halm) 
stellt, bleibt der Sieg sein. Der Hergang ist in beiden Dramen, 
natürlich nicht formell, so doch inhaltlich der gleiche, manch- 
mal könnte man direkt an freie Übersetzung des deutschen 
Originals denken. Äusserlich ist zu bemerken, dass Halm jetzt 
mit dem folgenden Monolog Percevals, in dem dieser seine 
Handlungsweise zu rechtfertigen sucht, den dritten Akt beginnen 
lässt, während der französische Überarbeiter sich mit der Ein- 
führung eines neuen, siebenten Auftritts begnügt. 

Ostrowski hat schon vorher da und dort bedeutend ge- 
kürzt. So fehlt im zweiten Aufzug die ganze dritte Szene, in 
der Griselidis von Gauvin die Auflösung ihrer Ehe erfahren 
soll Dann ist die Königin Zeugin der Verstossung der Griselidis 


ı) Var. flechit dans un effort. 


Griselidis in der- französischen Literatur. 35 


vor versammelter Ritterschaft und Volk, bei Halm kommt sie 
erst nach der Verstossung an, um bei der letzten Probe der 
armen Dulderin zugegen zu sein und nötigenfalls den säumigen 
Perceval zu mahnen. Der Hergang der Erzählung ist da und 
dort mit einigen Zusätzen bei Ostrowski versehen, so ist von 
einem Ring die Rede, den Griselidis zurückgeben muss: dieser 
spielt überhaupt in sämtlichen französischen Bearbeitungen eine 
nicht ganz unwichtige Rolle. Dann deutet Ostrowki nur an, 
dass Perceval eine Prinzessin von Rang heiraten müsse, Halm 
lässt die künftige Auserwählte des stolzen Ritters Morgane, die 
Schwester des Königs, sein. Die gewandte Schmeichelei, die 
der polnische Flüchtling Frankreich, seinem zweiten Vaterlande, 
zollt, wollen wir nicht übersehen. - Das Söhnlein der Heldin 
wird im deutschen Drama einer Amme gebracht, im französi- 
schen bittet Griselidis: 


Qu’un vaisseau portera l’orphelin 
Vers la France, l’asile des proscrits. 


Im vierten Akt des deutschen, im dritten des französi- 
schen Dramas nehmen die Prüfungen ihren Fortgang. Haben 
wir bis jetzt starke Verkürzungen bei Ostrowki nachgewiesen, 
so begegnet uns nun der umgekehrte Fall: das Einschieben von 
Auftritten, die teils nebensächlicher Art sind wie die Szene, in 
welcher der arglistige Gauvin dem vertrauensseligen Artus die 
Augen über das Verhältnis seiner Gattin zu Lancelot öffnet; 
dann aber wieder von solchen, die den Charakter des Dramas 
wesentlich verändern und überhaupt ein neues, noch nicht da- 
gewesenes Moment in die landläufige Behandlung und Auf- 
lassung der Griselidis bringen. Dies ist der Fall bei der Ein- 
führung des Versuchs, die verstossene Gattin in ihrer Treue 
wankend zu machen. Gauvin übernimmt bei Ostrowski dieses 
Verführeramt. Dieses Motiv hat dann, allerdings in veränderter 
Form, Armand Silvestre wieder aufgenommen und uns so die 
Alainszene geschaffen. Cedric weist seiner Tochter nicht nur 
die Türe, sondern schleudert ihr noch zuvor nach Aufzählung 
all ihrer Vergehen seinen Fluch nach. Das Aufsetzen so starker 
und greller Farben wäre in diesem Fall besser unterblieben. Der 
Schluss weicht bei Ostrowski stark von dem deutschen Drama 
ab. Bei Halm verzeiht Griselde Perceval nicht, als sie erfahren, 
dass alles nur ein Spiel war. 


86 Richard Schuster. 


„Ein Spiel und ich! — (nach einer Pause): 

Es war ein hartes, thränenreiches Spiel!“ 

Sie verschmäht auch den Kniefall der Ginevra. Nicht achtend 
der flehentlichen Bitten Percevals entfernt sie sich mit ihrem 
Vater und überlässt Perceval seinem verdienten Schicksal. 

Wenn dieser Schluss uns mit lebhafter Genugtuung und 
innerer Befriedigung erfüllt, so wenden wir uns direkt mit 
Grausen von dem Bilde ab, das uns Ostrowski vorführt, wie 
sich Griselidis, noch einmal von ihrem Vater verflucht, selbst 
vergiftet, um all den Jammer, um all dem Weh und Leid ein 
Ende zu machen. Wo, fragen wir, wo liegt denn die tragische 
Schuld der Heldin? 

Biedermann (Kochs Zeitschrift für vergl. Lit. 2, 113) hat 
der Halmschen Griselidis eine tragische Schuld zuweisen wollen, 
wenn er schreibt: „Diese Verleugnung der Kindesliebe, dieser 
Verzicht auf Elternsegen ist eine Verschuldung Griseldens, und 
ihre Schuld ist eine tragische, da Perceval durch eben jene 
Vorgänge geradehin verleitet wird, auf die unbedingte Hingebung 
seiner Gattin zu pochen und sich zu weiteren Prüfungen zu 
verpflichten.“ Abgesehen davon, dass noch die schwere Er- 
krankung ihres Gatten in Betracht gezogen werden müsste, bin 
ich gegen Biedermanns Auffassung an und für sich und stimme 
der von Volkelt (Ästhetik des Tragischen, S. 342) zu, der Gri- 
selidis nur unverschuldetes und am Ende durch sittlichen Ent- 
schluss übernommenes tragisches Leid zuweist. | 

Ihren Tod kann ein neuer Mord, den Perceval an Gauvin 
begeht, weder verständlich machen noch begründet erscheinen 
lassen. Auch kann der Schluss eher lächerlich als versöhnlich 
wirken. Es erfolgt die Umarmung Artus’ und des alten blinden 
Cedric, der sich kurz zuvor noch in üblen Schmähreden gegen 
die Hohen dieser Erde ergangen und sein Elend, das der 
Armen und Enterbten dieser Erde, mit bitteren Worten beklagt 
hat. Was hilft es, dass die stolze Ginevra nun vor dem toten 
Köhlerkinde knieen muss! Diese reichlich verdiente Demütigung 
kann Griselden nimmer dem Leben wiedergeben. 

Aus dem vorstehenden Vergleiche dürfte mit genügender 
Klarheit hervorgehen, dass Ostrowski die Halmsche Griselidis 
gekannt und alles Wesentliche aus ihr geschöpft hat. Ob ihm 
die französische Uebersetzung von Millenet (1840) oder der 
deutsche Text vorgelegen hat, muss dahingestellt bleiben. In der 


Griselidis in der französischen Literatur. 87 


Anlage hat er sie teilweise abgeändert, er hat Neues hinzugefügt, 
vieles gekürzt und einen Hauptfehler durch den ohne tragische 
Schuld herbeigeführten Tod der Heldin begangen. 

Wörtliche Entlehnungen sind an manchen Stellen nachzu- 
weisen, aber man muss anerkennen, dass der Bearbeiter in der 
Wahl der Bilder wie der Vergleiche teilweise seine eigenen Wege 
gegangen ist. Sprache und Stil hat gegenüber dem überladenen 
Schmuck und der übergrossen Weichlichkeit Halms durch kurzen, 
treffenden Ausdruck eher gewonnen als verloren. Die Personen 
selbst haben mitunter ganz verschiedene Rollen zugeteilt be- 
kommen, Gauvin ist zu einer diabolischen Persönlichkeit ge- 
stempelt worden, die in den kunstloseren und rauheren Rahmen 
der Ostrowskischen Griselidis sich sehr wohl einfügen lässt. 

Von Ostrowski gilt mit.noch grösserem Recht als von 
Halm, dass er eine allgemein menschliches Interesse erweckende, 
ästhetisch wertvolle Schöpfung nicht zustande gebracht hat. 
Statt lebenswahrer Menschen haben wir in Griselidis und Per- 
ceval bloss „künstlerisch konstruierte, effektvolle Theaterfiguren‘ !) 
vor uns. Unser Gefühl wird im Verlaufe der Handlung oft 
nicht nur erschüttert, wie es tragische Stoffe tun sollen, sondern 
direkt auf die Folter gespannt, aber höchst selten erhoben und 
beruhigt. Wahrheit der Hauptcharaktere lässt das Drama durch- 
aus vermissen, wenn auch die Gestalt Griseldens. besonders .am 
Schluss tragisch wirkt, sowie Schuld und Strafe, Leiden und 
Konflikte mehr als genug vorhanden sind. Eine Bühnenwirkung 
wie das Halmsche Stück hat die Ostrowskische Bearbeitung, 
trotz der inhaltlichen Anpassung des Stoffes an den Zeitge- 
schmack, nicht erreicht. 


) Vgl. Widmann (über Halms Griseldis) S. 122. 


88 Richard Schuster. 


IV. Die Griselidis von Armand Silvestre und 
Eugene Morand. 


Die Gris&lidis von Armand Silvestre und Eugene Morand, 
ein Mystere, wurde am 15 Mai 1891 zum ersten Male an der 
Comedie Frangaise aufgeführt. Da dieses Mystere bei weiten 
die wertvollste aller dramatischen französischen Griselidisbe- 
arbeitungen ist, so erscheint es angezeigt einen kurzen Lebens- 
abriss von Silvestre voranzuschicken. 

Armand Silvestre wurde am 18. April 1837 in Paris 
geboren, im Alter von 20 Jahren trat er in die Ecole polytech- 
nique ein, er verliess sie im Jahre 1869, ging aber nicht in den 
Militärdienst, sondern widmete sich der Verwaltungslaufbahn 
wurde Inspektor im Finanzministerium und dann zweiter Vor- 
stand des Bibliothek- und des Archivwesens: Dieser Laufbahn 
blieb er treu. Am 7. Juli 1886 wurde er mit dem Kreuz der 
Ehrenlegion geschmückt und am 12. Oktober 1892 zum Inspecteur 
des Beaux-Arts ernannt. Im Februar 1901 ist er in Toulouse 
gestorben. (Vgl. Vapereaus Dictionnaire und la Grande Ency- 
clopedie, weitere Literatur bei H. Thieme, Guide Bibliographique 
de la litterature frangaise de 1800 A 1906 S. 385.) 

Uns interessiert hier sein Wirken als Schriftsteller und 
Dichter. 

Im Jahre 1866 trat er mit seinen „Rimes neuves et vieilles“ 
zum ersten Mal vor die Oeffentlichkeit. Mit dieser Gedicht- 
sammlung hatte er sich das Wohlwollen und die Gunst von 
George Sand erworben, die in der Preface zu den Rimes neuves 
et vieilles schrieb: 

„Les chants que voici sont des cris d’appel jetes sur 
la route, Ils sont remarquablement harmonieux et saisissants. 
Ils ont lP’accent &mu des impressions fortes, et le chantre qui 
les dit, est un artiste eEminent, on le voit et on le sent du 
reste. Souhaitons- lui longue haleine et bon courage. Nous 
avons lu ses vers en epreuves; nous ne savions pas encore 
son nom: notre admiration n’est donc pas un acte de com- 
plaisance.“ 


Griselidis in der französischen Literatur. 89 


Neben dieses Urteil von George Sand mögen wir das 
seines Freundes Catulle Mendes stellen: !) 


„Aucun po£te contemporain, si l’on excepte Victor Hugo 
et Theodore de Banville en France, Algernon Charles Swin- 
burne en Angleterre, n’a ete, au m&me degr& qu’Armand 
Silvestre, dou& de cette prodigieuse puissance d’expansion 
de tout soi, qui est le grand, peut-Etre unique devoir des 
ämes pottes! Dans les plus hautaines et plus parfaites 
oeuvres de Silvestre, il y a des morceaux „Jläches‘“, de 
lächeuses repetitions de termes, un retour parfois irritant des 
me&emes rimes, et meme, oui, des negligences d’ecriture; 
mais, aussi dans les plus humbles, dans les plus abandonnees 
de ses oeuvres, il y a des emportements, des envolements 
de joie et de gloire par lesquels, tout & coup, il rejoint les 
plus hauts essors du reve humain; et, hors du de&sordre et 
quelquefois de l’incoherence des tätonnements, jaillit le vers, 
le vers tout d’une venue, le vers definitif, le vers sublime 
et parlait oü se re&alise, total, un moment de l’äme divinisde! 
et ceux qui, alors, n’admirent pas Armand Silvestre, mentent 
quand ils disent qu’ils admirent Lamartine, Hugo ou Musset.“ 


Als Fehler seiner Iyrıschen Begabung sieht Lemaitre die 
Eintönigkeit seiner Bilder an.?) „Verdienen wohl die Metaphern 
und die Bilder, die Armand Silvestre in seinen Fleurs du midi, 
den Primeveres und den Renaissances verwendet, den Namen 
Lyrik ?* fragt Buloz?), „setzen sie nicht vielmehr die Idee herab 
und berauben sie aller Poesie, anstatt sie herauszuheben und zu 
vergrössern?“ Derselbe Kritiker tadelt die Neuerungssucht, die 
sich bei dem jungen Parnassien breit mache und stellt est, 
das Talent unseres Dichters bekunde sich mehr in Gedichten 
niederer Gattung (tableaux de genres und mignonnes fantaisies) 
als in denen höherer Gattung oder gar in denen, die psycho- 
logischer Inspiration bedürfen. Buloz schreibt: 


„Sa muse n’est pas propre & debrouiller les vastes chaos 
d’idees, ni & faire planer des hauteurs bibliques l’esprit de 


1) Rapport sur le mouvement poctique francais par Catulle Mendes. 
Paris 1900. 

?) Revue bleue. 1885. 8.176. Vyl.dazu aber Anndles pol. et litt. 1901, 1.,8.124f. 

») R. d. d. M. 1870, S, 576. 


90 Richard Schuster. 


Dieu sur les eaux. Le tort de M. Silvestre, a en juger par 
le recueil dont nous avons essay& de p£netrer le sens, c'est 
de prendre le pele-mele amphigourique, l'entassement des 
mots sonores et de vaste compr&hension pour la majeste 
grandiose du penseur en vers. Ce qui domine, par exemple, 
dans ses methaphores, c’est ce que l’on pourrait nommer 
la couleur sanguinolente pour lui, le flambeau de Sirius est 
„sanglant“, le „sang“ des vestales a des -chaleurs qui des- 
sechent, les vents du ciel boivent, comme une coupe pleine, 
le „sang“ des morts, le „sang“ des coeurs siincruste aux 
levres de la baute; la mer, elle aussi, a son „sang“ lumineux, 
comnıe les illusions tombees ont leur „sang“ vermeil et 
doux. On nous permettra d’en passer.“ 


Auch als Kunstkritiker hat Silvestre sich betätigt und Werke 
veröffentlicht wie le Nu au Salon de 1888 ä 1892 (5 volumes), 
le Nu au Louvre, le Nu de Rabelais etc. 

Schliesslich hat er eine Sammlung von Studien, die unter 
einander nicht im Zusammenhang stehen, unter dem Titel „Por- 
traits et souvenirs“ (1866—1891) herausgegeben. 

Für das Theater war er verschiedentlich tätig und hat sich 
hier in den verschiedensten Gattungen, in der niedrig-komischen 
Hanswurstiade wie im religiösen Mystere, versucht. Chrono- 
logisch geordnet sind seine Bühnenwerke die folgenden: 


Dimitri, opera en 5 actes, avec M.H. de Bornier, 1876. 

Monsieur? come&die-bouffe en 3 actes, avec M. P. Burani. 

Myrra, sayn&te romaine 1880. 

Sapho, piece en un acte, en vers, 1881. 

Galante aventure, opera comique en 3 actes, 1882. 

Henri VIII, opera en 4 actes et 6 tableaux avec Leonie 
Detroyat, 1883. 

Aline, piece en un acte, en vers, avec M. Alfred Henne- 
quin, 1883. 

Pedro de Zanalea, opera en 4 actes, 1884. 

La Tesi, drame en 4 actes, avec Maillard, 1887. 

Jocelyn, opera en 4 actes, d’apres le poeme de Lamar- 
tine, 1888. 

Chasse-croise d’amour, avec Cavailhon, 1888. 

La femme Bookmaker, avec ’Cavailhon, 1888. 


Griselidis in der französischen Literatur. 9] 


Le Commandant Laripete, operette-bouffe en 4 tableaux, 
1891. 

Griselidis, Mystere en 3 actes, en vers libres avec Eugene 
Morand 1891. 

Le pilote, 1892. 

Les Drames sacres, Poeme dramatique, avec Eug..Morand, 
1893. | 

La fee du rocher, avec F. Thome, 1894. 

Tristan de Leonois, 3 actes, 7 tableaux, en vers, 1897. - 

Messaline, avec Eug. Morand, 1897. 

Charlotte Corday, opera, musique d’Alexandre Georges, 1901. 


Vieles Minderwertige ist selbstverständlich in seinen Werken 
enthalten, wie es bei einer derartigen Vielseitigkeit und staunens- 
werten Tätigkeit nicht anders zu erwarten ist. Er bringt es 
z.B. fertig, neben den schon aufgeführten für die Bühne be- 
stimmten Stücken im selben Jahre 1891 die Contes sales, le celebre 
Cadet-Bitard und eine Reihe anderer Schriften zu veranlassen. 

Von all diesen Werken ist sicher sein bedeutendstes Gri- 
selidis, das moderne Mystere, das von der französischen Aca- 
demie den Preis Toirac (4000 Frcs.) erhalten hat. In das 
Geheimnis der Mitarbeiterschaft näher einzudringen ist leider 
nicht möglich gewesen, da von Eugene Morand absolut keine 
Werke zu bekommen waren, weder in der Nationalbibliothek 
noch im Britischen Museum sind in den Katalogen Werke unter 
seinem Nanıen aufgeführt, auch in Thiemes Bibliographie fehlt 
er vollständig. Wir müssen also darauf verzichten, fest- 
zustellen, inwieweit Eugene Morand an dem Entstehen unseres 
Mysteres beteiligt ist, welche Stellen von ihm herrühren und 
welche ausschliesslich Eigentum von Armand Silvestre sind. 
Doch tragen namentlich die Iyrischen Partieen so sehr den 
Stempel des Dichters der „Sonnets paiens“ und der „Renaissances“, 
dass wir zweifellos Armand Silvestre als den Verfasser betrachten 
müssen, der das Wichtigste und Wesentlichste an dem modernen 
dreiaktigen Mystere geschaffen hat. Dieses wollen wir jetzt 
eingehender betrachten. | 


Am Spinnrocken sitzend singt Bertrade, Griseldens Die- 
nerin, ein Liebeslied. Da bringt plötzlich Gondebaut die Nach- 
richt von einem bevorstehenden Kreuzzuge und von der 
Kriegserklärtung an die Ungläubigen. -Auf Königs Befehl, 


92 Richard Schuster. 


'überbracht von einem seiner Sendboten, muss der Marquis und 
jeder waffenfähige Mann unverzüglich abreisen. Der Marquis 
hat Griselidis, die Tochter eines armen Hirten, auf der Jagd 
zufällig kennen lernen und von ihrem wunderbaren Liebreiz und 
ausserordentlichen Schönheit hingerissen, hat er sie eine Woche 
darauf geheiratet. Freiwillig hat sie unbedingten Gehorsam ihm 
gegenüber gelobt. Da ruft die Pflicht den Grafen auf zur 
Heerfolge gegen die Ungläubigen. Lebewohl sagt er seiner 
heissgeliebten Gattin in einfacher und doch tief ergreifender 
Sprache. Wird er seine Griselidis treu wiederfinden? Wird er 
überhaupt wiederkommen? Der Prior, dieser Menschenkenner, 
schlägt dem Grafen vor Griselidis einzuschliessen. An ihrer 
Treue und an ihrem Gehorsam hegt der Graf nicht den ge- 
ringsten Zweifel, unbeschränktes Vertrauen bringt er ihr ent- 
gegen, frei soll sie sich bewegen können und uneingeschlossen 
bleiben. Der Prior ist und bleibt jedoch misstrauisch. „Le 
diable est malin,“* sagt er. Nichts erschüttert den Grafen in 
seiner Zuversicht auf die Tugend und Standhaftigkeit seiner 
Gattin. 


Devant le diable m&eme 
Jen jurerais, s’il etait 1A. 


Bei diesen Worten des Grafen erhebt sich der in Holz ge- 
schnitzte Teufel unter dem Triptychon und schreit, sich vorstürzend: 
„Da bin ich!“ Eben dieser Teufel wettet nun mit Saluce, seine 
Frau werde ihn während seiner Abwesenheit hintergehen. Der 
Graf besitzt die Tollkühnheit auf die Wette einzugehen und 
gibt dem Teufel seinen Ring zum Pfand. Er nimmt Abschied 
von Weib und Kind. Treue bis in den Tod, unversiegliche 
Liebe, steten Gehorsam verspricht die Gräfin ihrem Gemahl. 
Von seinem Söhnchen nimmt er Abschied in Versen, die zu 
dem Schönsten gehören, was Silvestre je gedichtet hat. 


Toi, dont, pour le faix lourd des armes, 
je quitte le lEger berceau, 

Enfantelet, pauvre arbrisseau, 

Avant la vie, apprends les larmes. 


Pres de toi, c’etait le bonheur; 
Lä-bas, c’est la souffrance amere. 
Cependant je quitte ta m£re; 
Avant la vie, apprends l’honneur. 


Griselidis in der französischen Literatur. 93 


Qu’un baiser console et caresse 
Celle qui te donna le jour. 
Garde lui ta seule tendresse! 
Avant la vie, apprends l’amour! 
(11 benit l’enfant ) 


Sein Leben vertraut der Graf den Händen Gottes an, seine 
Ehre seiner Frau, das dritte Gut, seine innige Liebe zu Grise- 
lidis, wird er als köstlichstes Gut mitnehmen in den Krieg. 

Der zweite Akt spielt sich auf einer mit Orangebäumen 
bepflanzten Terrasse vor dem Schloss ab. Golden aussehende 
Früchte hängen an den mit goldgelben Blättern besäten Bäumen.- 
Wolkenlos und tiefblau ist der Hinımel, ein Herbsttag geht zur 
Neige. Nun ist es schon ein Halbjahr her, seitdem der Graf 
mit Ross und Reisigen in den Krieg gezogen ist. Die Zeit ist 
gekommen, wo der Teufel sein Versuchungswerk beginnen will. 
Er führt, als Sklavenhändler verkleidet, sein Weib ins Schloss 
ein; dank dem Hochzeitsringe, den der Graf ihm als Pfand 
zurückgelassen hat, weiss er seinen Worten einige Wahrschein- 
lichkeit beizulegen. Fiamina soll die Stelle der Griselidis 
vertreten; sie ist angeblich von dem Grafen gekauft worden, 
Griselidis wird aus ihrem Schlosse verjagt; an ihrer Statt spielt 
sich die Teufelin als neue Gattin und Herrin auf. Traurig über- 
lässt ihr Griselidis ihr Schloss und ihre Kleinodien. Ohne 
Murren, ohne Klagen verlässt sie ihr trautes Heim, das sie mit 
Klostermauern vertauschen will. Mit einem Gehorsam ohne 
Gleichen nimmt sie ihr Unglück entgegen. Doch der Versucher 
giebt sein Spiel noch nicht verloren, ihre Treue will er ins 
Wanken bringen. Mit einem jungen Troubadour, mit dem Freund 
ihrer Kindheit, lässt sie der Teufel zusammentrefien. Die Nacht: 
ruft er zu Hilfe, sie soll seine Pläne begünstigen helfen, 


Des bois obscurs, des blanches greves, 
Des monts aigus, des larges pres, 
Levez- vous, venez, accourez 

Souffles des baisers et des röves! 


Et montant, sous les yeux deserts, 

Du fond des eaux, du coeur des roses, 
Haleines troublantes des choses, 
Versez vos poisons dans lex airs! 


94 , Richard Schuster. 


Mettez votre ardente brülure 
Aux levres de Griselidis, 

Et de vos parfums alourdis 
Baignez sa lourde chevelure! 


Verse dans ses veines le feu 

Que tu cachais dans le mystere 
Ame perfide de la terre 

Par qui souvent j’ai vaincu Dieu! 


Oma complice, lune amie 

Au vieux Satan, fidele encor 
Repands sur la terre endormie 
Le sang de ta blessure d’or. 


De vos rayons, come de charmes, 
Enveloppez les coeurs d’amour, 
Ftoiles qui serez des larmes 

Aux yeux des amantes un jour. 


Das Liebesduo zwischen Griselidis und Alain, die sich in 
dem düsteren Garten voll berauschender Wohlgerüche treffen, 
ist einer, was den Klang, die Wahl und den Inhalt der Worte 
anbetrifft, wohllautenden und hinreissenden Musik zu vergleichen. 
Die junge Marquise, schon im tiefsten Innern ihres Wesens durch 
die Erzählung der grausamen Treulosigkeit ihres Gatten getroffen, 
schwankt, wird schwach und setzt sich den verführerischen 
Worten ihres schönen Freundes nicht entgegen. Schon gibt sie 
nach, der Teufel denkt, er hat gewonnen Spiel, da eilt plötzlich 
ihr junger Sohn Loys herbei und zeigt ihr einen verwundeten 
Vogel. Nun erinnert sie sich ihrer Pflicht, entwindet sich den 
Armen Alains und drückt ihr Söhnchen schützend an ihre Brust. 
Der Teufel ist wütend, niemals zuvor ist er solchem Widerstande 
begegnet: 

Apres l’amour, la force reste encore, 
Pour vaincre la fidelite. 


Der Zufall kommt ihm zu Hilfe. Ein Freibeuterkapitän ist bis 
über die Ohren in Griselidis verliebt und will sie durch seine 
Spiessgesellen entführen lassen; der Teufel hat ihnen schön in 
die Hände gearbeitet, äusserlich schon ist die Gräfin durch die 
Krone auf ihrer Stirne kenntlich. Doch misslingt ihm auch 
dieser Anschlag. Denn Fiamina hat kurz zuvor Griselden die 


Griselidis in der französischen Literatur. 95 


Krone abgefordert und natürlich entführen die Räuber die Frau 
des Teufels, die ihnen ohne weiteres folgt, höchlichst erfreut 
über dieses galante Abenteuer. Ihr Gatte rächt sich dadurch, 
dass er den kleinen Loys raubt. 

Als die Not aufs höchste gestiegen ist, kommt der Marquis 
zurück. Der getreue Gondebaut war schon vorher zurück- 
gekehrt und hatte berichtet von seinen und seines Herrn Kriegs- 
taten gegen die Sarazenen und von dem rätselhaften Verschwinden 
des Grafen. Noch unternimmt der Teufel einen letzten vergeb- 
lichen Versuch, um den Glauben des Marquis an die Treue 
seiner Frau zu erschüttern, aber dieser stellt fest, dass sie ihm 
ebenso gehorsam wie treu geblieben ist. Die heilige Agnes 
übergibt ihnen auf ein inbrünstiges Gebet hin ihr Söhnlein. 
Das moderne Mystere endigt mit den Worten des Grafen: 


A föter notre amour qu’& present tout s’empresse 
Jaimerai plus encor la femme que j’aimais 
Ayant ä& ma douleur mesure& sa tendresse. 


9 Richard Schuster. 


Mystere haben die beiden Verfasser ihre Griselidis genannt. 
Was hat ihr Stück mit den Mysteres des vierzehnten und fünf- 
zehnten Jahrhunderts gemein? Wie waren diese beschaffen? 
Von wem, wann und zu welchem Zweck wurden. sie aufge- 
führt, welche Stojfe wählte sich der Dichter aus und wie ging 
die Handlung vor sich? 

Der Name Mystere erscheint zum ersten Male bei den 
Passionsbrüdern von Rouen im Jahre 1374. Vor diesem Zeit- 
punkt tragen die dramatischen Stücke ohne irgend welche Aus- 
nahme andere Titel, am häufigsten werden sie jeu, miracle, vie 
oder histoire genannt. 

Das Mysterium verdankt der Kirche sein Dasein und seine 
weitere Ausbildung. Beruisschauspieler gab es nicht: hoch und 
nieder, arm und reich übernahmen Rollen, für die Kostüme 
mussten die Männer selbst aufkommen, diese übernahmen auch 
die Frauenrollen. Hatten die Bewohner einer Stadt reichlich 
Frucht eingeheimst oder waren sie von einer Seuche verschont 
geblieben, so wurde aus Dankbarkeit hiefür ein geistliches Spiel 
(Mystere) aufgeführt, das als ein Gott wohlgefälliges Werk an- 
gesehen wurde. Das Spiel dauerte stets vom frühen Morgen 
bis zum Sonnenuntergang und wurde nur mittags durch eine 
Pause unterbrochen; der Platz zur Aufführung war gewöhnlich 
neben der Kirche gelegen. Den Stoff zu den Stücken bot 
teilweise die Heilige Schrift dar, den übrigen Stoff lieferten 
die Heiligenleben. Die Mysterien, die wir besitzen, können in 
drei Stoffkreise eingeteilt werden und zwar: in den Kreis des 
Alten Testaments, in den des Neuen Testaments, welcher Leben, 
Leiden und Auferstehung Christi sowie die Apostelgeschichte 
umfasst, und in den der Heiligenlegenden. 

Das Stück war in journdes eingeteilt, die mit einem Prolog 
anfingen und einem Epilog endigten. Die Stücke waren oft 
sehr lang und brauchten verschiedene Tage zu ihrer Aufführung. 
Grebans Mystere z. B. umfasst nicht weniger als 34574 Verse. 

Bei diesen geistlichen Spielen wurde die Einheit der Zeit, 
die das Mittelalter nicht kannte, natürlich nicht beobachtet, das 
Mystere du Vieux Testament z. B. erstreckt sich über einen 
Zeitraum von viertausend Jahren. Ebensowenig kannte man die 


Griselidis in der französischen Literatur. 97 


Einheit des Orts.') Die beständige Anwendung des Wunder- 
baren ist ein weiteres Hauptmerkmal der Mysteres. Von einer 
Einheit oder nur Wahrscheinlichkeit der Handlung ist nirgends 
eine Spur zu entdecken, eine dramatische Verwicklung kennen 
die Dichter nicht, die Szenen sind lose an einander gereiht. 
Die couleur locale war ebenso unbekannt wie Zeit- und Orts- . 
einheit.e. Wenn das moderne Drama nur einen Haupthelden 
zulässt, so hatte das mittelalterliche deren oft mehrere neben- 
einander. Dem dramatischen Helden fehlte jeglicher freier Wille: 
„Der Mensch ist nach der Darstellung der Mysterien nur ein 
Spielball der höheren Mächte des Himmels und der Erde.“ 
(Suchier, Geschichte der franz. Literatur, mit Birch-Hirschield, 
$. 289 f.) 

Aus dieser allgemeinen Betrachtung über die Mysterien 
mag zur Genüge hervorgehen, dass die modernen Verfasser 
sich nur wenig im Aufbau ihres Stückes von den alten Mysterien 
beeinflussen lassen konnten, die Einheit der Handlung ist in 
der Griselidis völlig gewahrt. Auch handelt weder der Marquis 
noch Griselidis ohne freien Willen. Das Wunderbare ist nicht 
wie bei den Mysteres zum Hauptgegenstand des Stückes gemacht. 
Einige Äusserlichkeiten, die den Gang der Handlung nicht beein- 
flussen, haben die Verfasser den alten Mysterien nachgeahmt. 
Wie dort schliesst ein Vor- und Nachwort das Mystere. Die 
Erinnerung an die mittelalterliche französische Bühne haben die 
Dichter durch die Darstellung der Hölle auf dem die Bühne 
abtrennenden Vorhang wachzurufen gesucht. Man vergleiche 
Silvestres Bühnenanweisung vor dem Prolog: 


„Au bas et au milieu de ce rideau l’entree de l’Enfer, 
figure par la bouche enorme du diable dans les flammes 
et dans la fumde. De chaque cöte de grands Iys symboliques.“ 


Nur das komische Element erfreute sich im Mittelalter 
völlig freier Erfindung. Dieses komische Element vertraten in 
den Mysterien die Teufel, die in die ernstesten Szenen mit ihren 
grobkörnigen und derben Spässen eingriffen. Die Einführung 
der Figur des Teufels ist bei Silvestre auf den Einfluss der 
alten Mysteres zurückzuführen. Eine eingehende Betrach- 
tung des Teufels und seiner Rolle in den Mysterien und ein 


1) D’action se transportait cent fois pendant la duree d’un mystere. d’un 
lieu & Vautre, sans sortir de la meme enceinte. (Petit de Julleville I, 242.) 
7 


98 Richard Schuster. 


Vergleich mit dem Teufel Silvestres darf daher nicht unterblei- 
ben‘), da ja der Teufel das wichtigste, wenn nicht das einzige 
Bindeglied zwischen altem und modernem Mystere bildet. 

Man könnte glauben, dass das Mystere ‚Le chevalier qui 
donna sa femme au diable“) aufSilvestres Griselidis Einfluss gehabt 
hätte. Der Titel scheint dies anzudeuten. Jedoch ist der Inhalt und 
der Charakter der handelnden Personen grundverschieden von 
der Griselidis. Der Ritter, ein Verschwender, hat Hab und Gut 
durchgebracht, der Teufel redet ihn nun auf einem Spaziergange 
an und verspricht ihm, ihn reicher als je zu machen, falls er 
ihm nach Verfluss von sieben Jahren seine Frau überliefere und 
ausserdem noch der Dreieinigkeit und der Jungfrau Maria ab- 
schwöre. Der Ritter geht auf alles ein, nur die Jungfrau Maria 
verleugnet er nicht. Nach Verlauf von sieben Jahren soll die 
Ritterfrau dem Teufel ausgeliefert werden. Doch Gott rettet auf 
die Fürbitte der Jungfrau hin die Beklagenswerte und verzeiht 
dem Ritter. 

Das Wunderbare, das stets. den Hauptgegenstand jedes 
Mysteres bildet, ist — und damit kommen wir wieder zur Gri- 
selidis zurück — bei Silvestre und Morand ganz äusserlich. Nur 
einmal, am Schluss, greift die heilige Agnes in die Handlung ein. 

Wenn wir von dem Artikel in der Revue politique et lit- 
teraire (1891) absehen, so hat der Versuch des Verfassers die 
Geschichte der Griselidis, wenn auch nicht ganz im alten Ge- 
wand, auf die Bühne zu bringen durchgängig neben ernster Kritik 
auch warmes Lob gefunden. Auch die Aufnahme von seiten 
des Publikums war ebenso herzlich wie andauernd.?) Der Figaro 
vom 16. Mai 1891 schreibt: 

„Ce mystere par personnages, pr&ecede d’un prologue et 
suivi d’un Epilogue en forme de moralite, est eEvidemment 
un spectacle entitrement nouveau pour la Come&die-Frangaise ; 
et chose notable a tous les Egards, le public de l’an 1891 
a paru s’y complaire avec autant d’interät et de recueillement 


1 ner 


!) Vyl. S. 105. 

?) Petit de Julleville IT, S. 355. 

») Das Stück wurde Monate lany nach seiner Frstaufführuny noch zur 
Darstellung gebracht, wie ich aus dem Spielplan der Opera und der Comedie 
francaise entnommen habe, auch heutigentags ist es noch zugkräftig und erlebt 
dann und wann noch Aufführungen in der Hauptstadt wie in der Provinz. Eine 
portugiesische Übersetzung von Macedo Papanca (Conde de Monsarez) erschien schon 
das Jahr darauf (1892) unter dem Titel: Griselia Traduecao livre en verso de Griseldis. 


Griselidis in der französischen Literatur. 09 


qu’en montrerent jamais les contemporains des Confreres de 
la Passion. Ses applaudissements aussi chaleureux que per- 
sistants se sont surtout adress&s, il faut le dire, aux parties 
Iyriıques de l’&@uvre; empreintes d’un souffle poetique qui 
nous ramene vers des &poques litteraires de&jä lointaines. 
Est-ce un renouveau qui s’annonce ? Je voudrais le croire; 
et l’on ne peut que savoir gr a M.M. Armand Silvestre et 
Eugene Morand de nous avoir soustraits, ne füt-ce que 
pour un instant, & l’etouffante atmosphere otı realisme et 
materialisme s’efforcaient d’enserrer notre theätre. I faut 
egalement louer la Come&die Frangaise de s’etre associde A 
cet effort, elle ya mis tout son zele et tous ses soins artis- 
tiques, le talent de quelques-uns de ses meilleurs arueies a 
fait le reste ... . . s 


Ähnlich äussern sich die meisten literarisch bedeutsamen 
Tageszeitungen und Revuen. 

Als Vorbild hat den Verfassern dem Prolog zufolge das 
„mystere d’antan“, le Miroir de l’Epouse fidele, gedient. Doch 
haben sie zwei sehr wichtige Änderungen der traditionellen 
Griselidis eingeführt. 

Vor allem haben sie den Marquis von Saluzzo so gut das 
eben möglich war unserem modernen Empfinden angepasst und 
uns menschlich näher gebracht. Der Marquis tritt uns hier 
nicht als Verkörperung der mittelalterlichen Auffassung über 
das Verhältnis von Mann und Weib entgegen, auch nicht als 
trotzig herrischer, ehrliebender Perceval, noch als grausamer 
lüsterner Fürst, wie ihn z. B. Frau von Saintonge darstellt. Der 
grausame Unmensch der alten Histoire ist im modernen Stück 
das Urbild eines vertrauenden, sein Weib und Kind innig lieben- 
den Ehegatten geworden. Nicht er stellt den Gehorsam seines 
Weibes auf unsinnige Proben, sondern der Teufel; an ihre Tugend 
glaubt er so unumschränkt, dass er taub bleibt gegen die wohl- 
meinenden Ratschläge seines Kaplans, der von Weibertugend 
eine sehr geringe Meinung hat. 

In zweiter Linie haben die Verfasser die starre Griselidis 
der Überlieferung mit weiblicheren Zügen ausgestaltet. 

Nicht allein ein Vorbild und einen Spiegel des Gehorsams 
haben sie aus ihr gemacht, sondern auch einen der Treue. 
Nichts derartiges ist in der alten Historie enthalten. Dort sind 


100 Richard Schuster. 


die Verfasser nur bestrebt, die Unterwürfigkeit und den blinden 
Gehorsam der Heldin vorzuführen. Die Verfasser haben eines- 
teils das Motiv des Gehorsams bedeutend eingeschränkt, und 
zwar so, dass weder Griseldens Würde noch ihre Mutterliebe 
darunter leidet; andererseits haben sie ihr die Hauptprobe 
erspart, nämlich die Wegnahme und angebliche Erdrosselung 
des Kindes nach dem Willen des Gatten. Der Erprobung ihrer 
Treue haben sie einen weit grösseren Platz als ihrem Gehorsam 
eingeräumt, und gerade diese Treue hat sie einzig und allein 
bewahrt durch ihre Mutterliebe. 

Betrachten wir nun das moderne Mystere auf seinen lite- 
rarischen Wert hin, so scheint mir kein Urteil scharfsinniger 
und besser als das von Francisque Sarcey im Temps.!) Er 
schreibt: 


„Quand vous irez au Theätre Frangais voir Griselidis, 
n’allez donc point y chercher une @uvre de theätre qui vous 
donne cette sorte de plaisir que l’on attend de l’art drama- 
tique; figurez-vous pour un instant que vous &tes A la Biblio- 
theque nationale, que vous avez demand& un missel du 
vieux temps, que vous en tournez les pages, tantöt regar- 
dant les enluminures, tantöt lisant les vers dont ces peintures 
sont l’illustration. Vous vous arreterez & quelques-uns des 
feuillets qui vous paraitront charmants; d’autres vous semb- 
leront insignifiants; quelques-uns m&me (il y en aura) fran- 
chement mauvais et insupportables. Mais vous aurez, durant 
une heure, vecu hors de votre monde, dans un milieu tres 
factice assur&ment, mais curieux et amusant par son &trangete 
meme.“ 


Die Verfasser sind sich wohl bewusst, dass sie kein Werk 
geschaffen haben, das ausgeprägt dramatische Eigenschaften 
besitzt. Da sie selbst das Mystere im Prolog als einen ‚conte 
en l’air, fait pour les bonnes gens‘ bezeichnen, so werden wir 
nachsichtig sein und an das Ganze einen etwas milderen Mass- 
stab legen müssen als an ein rein dramatisches Werk. 

Wenn wir nach Freytag unter Handlung „eine nach den 
Bedürfnissen der Kunst organisierte Begebenheit“ verstehen, 
„deren Verlauf und innerer Zusammenhang durch die drama- 
tischen Prozesse der Individuen deutlich wird,“ so ist die Hand- 


ı) Vgl. Sarcey: Quarante ans de theätre VI, S. 394. 


Griselidis in der französischen Literatur. 101 


lung hier ausserordentlich einfach. Zu leugnen ist ferner nicht, 
dass das moderne Mystere in Gefahr kommt, zu einem Situations- 
stück oder Intriguenstück zu werden; damit hängt es zum Teil 
auch zusammen, dass wir weder Charakterstudien noch Analysen 
der Leidenschaften in Griselidis finden. 
Es wäre zweckmässig gewesen eine raschere Auflösung 
des Knotens herbeizuführen und Griselidis nicht noch alle 
möglichen Proben aufzuerlegen Der dritte Akt erscheint einem 
daher etwas zu lang und zu leer, manche Kritiker sind daher 
für Zusammendrängung der Handlung auf zwei Akte ein- 
getreten.') 

Die Lösung der Geschichte ist glücklich, doch scheinen 
mir die zur Lösung des Knotens angewandten Mittel etwas 
kindlich: noch zwei- oder dreimal wechselt der Teufel das Kostüm, 
um Griselidis vom rechten Wege abzubringen. Gern würden 
wir die geplante, aber missglückte, romanhafte Entführung der 
Heldin durch Freibeuter und den Raub ihres Söhnleins missen. 

Während Griselidis fort ist, kommt im dritten Akt ihr Gatte 
zurück. Er ist ganz erstaunt, niemand zu Hause zu finden. 
Griselidis kehrt inzwischen zurück, in einem echten Theaterstück 
hätte das erste Wort beim Wiedererscheinen des Gatten dem 
Verschwinden des Kindes gegolten, er hätte Rat und Hilfe 
schaffen müssen Doch nichts von alledem erfolgt. Die zwei 
Gatten ergehen sich in leidenschaftlichen Zärtlichkeitsausbrüchen 
ohne weiter an das Vorhandensein des Kindes zu denken. 
Glücklicherweise denkt die Heilige für sie an das verlorene 
Kind. Das Triptychon mit dem Bild der Schutzpatronin des 
Hauses öffnet sich und zeigt die Heilige, die das zu ihren 
Knieen schlafende Kind hält. | 

Der Höhepunkt des Mysteres ist die Stelle, in welcher das 
Resultat des aufsteigenden Kampfes zwischen Griseldens Treue 
und dem Teufel entschieden heraustritt. Wie fast immer ist der 


ı) Leon Bernard Derosne sagt im Gil Blas vom 17. Mai 1901: ‚Ils ont 
eu raison d’en prendre a leur aise avec la legende,; mais je crois qwils auraient 
pu se contenter de deux actes pour nous renseigner sur le compte de leur irre- 


prochable heroine‘ — Adolphe Brisson übertreibt entschieden, wenn er bei der 
Rezension im Parti national sagt: ‚A partir du milieu dw 2nd acte, elle ylisse 
dans la puerilite, — „Ilest permis, direz-cous, a un fabliau d’etre puert." Sans 


doute, mais au moins faut-i quwil sen degage ou bien une lecon morale ou bien 
une signification symbolique.' 


102 Richard Schuster. 


Höhepunkt auch hier die Spitze einer gross ausgeführten Szene. 
Allen Glanz der Poesie, alle dramatische Kraft hat der Dichter 
angewendet, um diesen Mittelpunkt seines Kunstwerks lebendig 
herauszuheben. Der Zeitpunkt zur Einführung Alains ist ausser- 
ordentlich günstig gewählt. Die vom Gatten anscheinend Ver- 
stossene hat als einzige Zuflucht für sich und ihr Söhnlein nur 
das Kloster. Wenn gleich Griseldis ergeben in ihr Schicksal 
ist, so ist sie doch nicht zufrieden, und da verschafft ihr der 
Teufel unter Anrufung der Mächte der Finsternis eine Zusammen- 
kunft mit ihrem Jugendfreunde Alain. Die reizende Szene 
zwischen Alain und Griselidis bietet den Höhepunkt der Hand- 
lung. Die vor Leidenschaft bebende Stimme des jungen Mannes, 
sein aufrichtiges, herzbewegendes Liebeswerben verfehlen nicht 
auf die Unglückliche Eindruck zu machen. . 

Die Verwirrung und die Angst der Griselidis, der Liebes- 
glut und der Leidenschaft ihres Jugendfreundes nachzugeben, 
ist vortrefflich gezeichnet: „Seigneur, contre l’amour ayez pitie 
de moi“, ruft sie in höchster Seelenangst aus. Da kommt eben 
zur rechten Zeit ihr Söhnchen. Griselidis ergeht es wie den 
Lilien auf dem Felde, die vor dem.Wirbelsturm der mit elemen- 
tarer Gewalt dahinbraust, sich wohl neigen, aber nicht geknickt 
werden.!) Vor der Sünde, aber nicht vor namenloser Trauer 
kann sie Loys bewahren. Nichts ist rührender als das anmutige 
Gemälde zu betrachten, das uns Griselidis zeigt, bemüht, den 
Anblick des Leidens, der sich ihrem Loys in dem verwundeten 
Vöglein darbietet, abzuwehren: sie, die selbst unsäglich leidet. 

Gerade diese Szene zeigt uns, dass Griselidis nicht die 
Verkörperung eines abstrakten Begriffes darstellt, dass die Hei- 
lige zu einem Wesen mit Fleisch und Blut, zu einem Menschen 
mit lebhaftem, warmem Herzschlag wird. 

Es bleibt mir nun noch übrig zu der für die Dichter an- 
scheinend so vernichtenden Kritik in der Revue politique et lit- 
teraire vom Mai 1891 Stellung zu nehmen. Da sie weitaus alle 
Vorwürfe sämtlicher sonstiger Kritiken, die über Griselidis er- 
schienen sind, umfasst, so erschien es mir als das Zweckdien- 
lichste Punkt für Punkt diejenigen Vorwürfe herauszugreifen und 
auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen, die gegen unser Mystere, nach 
meiner Ansicht zu Unrecht, erhoben wurden. 


!) Vergl. die Revue dramatique vow Camillo Bellaiyue in der Revue des 
deux mondes. Mai 1891, S. 703. 


Griselidis in der französischen Literatur. 103 


Können wir tatsächlich mit dem Kritiker anerkennen, dass 
unser Mystere inhaltlich unbedeutend und alltäglich ist? Ist es 
etwa banal, wenn ein schönes Mädchen aus niederem Stand 
ihrer Reinheit und Lieblichkeit wegen von einem hochgeborenen 
Herrn zur Gemahlin erhoben wird, ist ferner die Prüfung ehe- 
licher Treue und ehelichen Gehorsams etwas Unbedeutendes 
oder gar Alltägliches? 

Muss ich also hier entschieden einen anderen Standpunkt 
als der genannte Kritiker vertreten, so teile ich auch durchaus 
nicht die von ıhm so allgemein ausgesprochene Ansicht, des 
Dichters Gedanken seien gewöhnlich. Es ist zuzugeben, dass 
z. B. die folgenden zwei Strophen etwas weitschweifig geworden 
sind, um den einfachen Gedanken wiederzugeben „die Zeit der 
Liebe sei zu kurz.“ 

Que l’heure est donc breve 
Qu’on passe en aimant! 

C’est moins qu’un moment 
Un peu plus qu’un röve..... 


Le temps nous enleve 
Notre enchantement. 


Sous le flot dormant 
Soupirait la greve..... 
M’aimas-tu vraiment 
Füt-ce seulement 

Un peu plus qu’un r&ve. 


Man lese nur die in der Inhaltsangabe citierten Verse, um 
sich von der Grundlosigkeit jener Behauptung zu überzeugen. 
Man ist beinahe versucht anzunehmen, der Kritiker der R.P. etL. 
habe eine persönliche Abneigung gegen Silvestre gehabt, denn 
von Objektivität dürite man wohl nicht sprechen können, wenn 
man liest: ‚Si c’est une piece, elle est d’une puerilite rare.‘ 

J. T., so zeichnet der Kritiker der R. P. et L., fährt 
weiter fort: 

„Si c’est un Mystere, il me parait manquer des qualites 
essentielles et indispensables, la piete et la sincerite.“ 

Wohlweislich unterlässt J. T. es, den nach ihm überflüssigen 
Beweis für das Fehlen der Frömmigkeit im Mystere anzutreten, 
in der Tat würde es auch schwer halten einen triftigen Beweis 
beizubringen. Dass der Teufel gotteslästerliche Reden führt, 
wird uns nicht wundern, dies liegt in seiner Rolle begründet; 


104 Richard Schuster. 


es ist aber schwer zu sagen, wie die Frömmigkeit etwa anders 
hätte dargestellt werden müssen. Die äusserliche Frömmigkeit 
kommt bei allen Personen zum Ausdruck, wenn wir etwa von 
Alain absehen, von dem der Teufel sagt: 


Et qui!) savent encore ä ces äges maudits 
Donner pour un baiser leur part de paradis! 


Die äusseren Formen in jenen mittelalterlichen'Zeiten, in denen 
sich die Religion äusserte, waren Anrufung und Anbetung der 
Heiligen durch die Menschen, durch deren Vermittelung bei 
Gott ihren Wünschen entsprochen werden sollte, Verehrung 
und Ehrfurcht den Dienern der Kirche gegenüber. Eine ganz 
getreue Lokalfarbe dieser Zeiten hat unser Mystere aufzuweisen. 
Dass es von einer tiefen Frömmigkeit durchdrungen sei, will 
ich nicht behaupten, sie erscheint mir eher oberflächlich und 
äusserlich. 
J. T. sagt fernerhin: 


‚Tous leurs personnages parlent identiquement le me&me 
langage, les strophes du Diable pourraient presque £tres 
dites par Alain.‘ 


Man braucht nur beide Monologe hinter einander durch- 
zulesen, so springt klar in die Augen, dass dieses ‚presque‘ 
mindestens durch ‚ne-guere‘ zu ersetzen wäre. _ 

Anerkennen muss J. T. doch, dass die Dichter gewandte 
Verstechniker sind, doch wenn er auch zugibt, dass die Verse 
glatt und flüssig sind, so sagt er gleich darauf, der Vers sei 
‚un peu vide. Was man sich unter einem leeren Vers vorzu- 
stellen hat, wird der Kritiker wohl selbst nicht klar wissen. Ich 
hoffe zur Genüge in der Untersuchung über die Form nachzu- 
weisen, dass Armand Silvestre gerade in dieser Beziehung am 
wenigsten einen Vorwurf verdient. 

Wenn J. T. dann weiter fortfährt, dieselben Bilder kehren 
immer wieder, so wird die Untersuchung über die poetische 
Sprache unseres Mysteres ergeben, dass allerdings in den Ver- 
gleichen und Gleichnissen, die Bildern und Vorgängen aus der 
Natur entnommen sind, das Meer und der Abend relativ häufig 


ı) Se. les poetes. 


Griselidis in der französischen Literatur. 105 


zu einem dichterischen Bilde verwendet werden, doch stets in 
anderem Zusammenhange und mit wechselndem Bilde. Jeden- 
falls wird jeder vorurteilsfreie Leser feststellen, dass von einem . 
stetigen Wiederkehren derselben Bilder nicht die Rede sein kann. 
Finden wir vielleicht einige Phantasie in dem Mystere, 
fragt J. T. weiter, die die mangelnde Frömmigkeit und Aul- 
richtigkeit ersetzen? ,‚Helas, la fantaisie et l’esprit sont repre- 
sentes par le Diable et sa femme, et je ne crois pas Etre trop 
severe en qualifiant cette fantaisie et cet esprit de lamentables.‘ 
Dass der Teufel, der sehr unter dem Pantoifel seiner ungetreuen 
Frau steht, eine verunglückte Figur ist, muss zugegeben werden. 
Durch die Unwahrscheinlichkeit der Phantasie, wie sie in der 
Rolle des Teufels zum Ausdruck kommt, wird das Interesse an 
der Handlung vermindert und das Spiel der Leidenschaften 
die Verwicklungen der Intrigue werden blosse Nebensache. 
Sehr absprechend über die Figur des Teufels und seiner 
Frau ist auch das Urteil ın der Revue des deux mondes, die 
Armand Silvestre sonst überaus wohlwollend gegenübersteht. 
Dieses Urteil kann ich nur voll und ganz unterschreiben: 
‚Deux personnages malheureusement gätent le charme 
de Griselidis, le diable et surtout sa femme. Je sais bien 
que dans un mystere le diable est pour ainsi dire du style; 
il est tout a fait moyen äge, & sa place ici avec ses cornes 
et ses griffes comme sous un porche de cathedrale. Mais 
yaurais voulu un autre diable sinon pareil au Satan de Milton, 
du moins tragique et douloureux comme le Lucifer d’Eloa; 
ou bien, dans un genre oppos€ et plus conforme peut-etre 
aux idees du temps, le veritable Malin, grimacant et gouailleur, 
un Mephistopheles avec moins de philosophie que dans Faust 
et plus d’amertume encore, le diable enfin avec l’esprit de 
Voltaire, ’homme qui peut-etre lui a le plus ressemblie. 
Au lieu de cela M. M. Silvestre et Morand nous ont 
donne un diable de mauvais goüt et de mauvais ton, fan- 
toche d’opeErette ou de mascarade,.compere de revue, quelque 
chose comme le Pluton d’Orphee aux enfers &egare dans un 
tableau de Memling. Et pour comble de malheur, ils ont 
marie cet insipide demon avec une Madame le diable, maitresse 
femme et bonne enfant, plus vulgaire encore que son &poux, 
qui le mene, le malmene et le trompe Et vous devinez 
alors & quel comique glacial, ä quelles plaisanteries usees 


106 Richard Schuster. 


peuvent preter les querelles et les adulteres du menage 
infernal.‘ 


Eıne Charakteristik des Teufels ist nur lohnend durch einen 
Vergleich der Besonderheiten und Eigenschaften seiner Vor- 
gänger in der Blütezeit der Mysterienliteratur. Seine Figur ist 
ganz mittelalterlich, und eine für das geistliche Schauspiel der 
Franzosen so wichtige dramatische Figur durfte natürlich auch 
bei einem modernen Mystere nicht wegbleiben. 

Wiecks Untersuchung über ‚Die Teufel auf der mittelalter- 
lichen Mysterienbühne‘ ermöglicht eine bequeme Uebersicht 
darüber, wieweit die Verfasser für diese wichtige Rolle etwa 
Quellen aus der mittelalterlichen Literatur Frankreichs heran- 
gezogen haben. 

Der Teufel wird im modernen Mystere überhaupt nicht 
mit einem Namen versehen, er nennt sich den Sohn Belphegors, 
dieser Belphegor ist zn fassen als Baal Peor, das ist der Gott 
der Moabiter, Symbol der Zeugungskraft der Sonne. Belphegor 
kommt auch als Personenname vor, im mittelalterlichen Mystere 
ist der Name nicht zu belegen, ebensowenig Fiamina. 

Wieck weist nach (S. 21), dass das Äussere der Teufel 
meist tierisch war, sie sahen aus wie ein Ochse, zuweilen auch 
wie ein Hund oder Schafbock. Ihr Aussehen war ursprünglich 
darauf berechnet, Furcht und Schrecken bei den Zuschauern 
zu erregen, obwohl dies nur selten der Fall gewesen sein mag. 
— Andere Mysteriendichter haben die Teufel als die Fürsten 
dieser Welt aufgefasst, daher in kostbaren Kleidern, in ‚veloux‘ 
und ‚sattin‘ auftreten lassen. 

Das Äussere des Teufels im modernen Mystere ist jeden- 
falls während seiner späteren Verkleidungen als Sklavenhändler 
und sonst ganz menschlich, wenn er auch sonderbar genug 
aussieht. Eine Stelle weist darauf hin, dass er einige tierische 
Extremitäten bewahrt hat: 


Un diable si jovial que, sur la route bleue 

Oü le plaisir guidait mes pas 

Je ne sentais seulement pas 

L’effort des pauvres gens qui tiraient sur ma queue! 


In den alten Mysteres wird der Teufel hauptsächlich als 
schwarz, hässlich und stinkend geschildert. Von diesen Eigen- 
schaften können wir das Vorhandensein der beiden letzten beim 


Griselidis in der französischen Literatur. 107 


modernen Stück feststellen. Sein eigenes Weib macht sich über 
seine Hässlichkeit lustig. „Mais regardez-vous donc? Pour 
plaire qu’avez-vous?“ 

Dass er einen unangenehmen Geruch an sich hat, schliessen 
wir aus der Bemerkung Gondebauts, der einen instinktiven 


In weisser Hülle birgt er eine schwarze Seele; als ıhn sein 
Weib prügelt, schreit er: 


(34) J’ai ’äme noire: au moins laissez-moi la peau blanche. 


Die Vorstellung, die das Mittelalter sich bildete, der Teufel 
könne den Umständen entsprechend sich unsichtbar machen, 
ist nit in unser Mystere übernommen worden (vgl. das Miracle: 
‚De la Mere au Pape‘): 


(S. 22)... plus subtil que l’air, plus leEger que le vent 
Je puis, comme il me plait, paraitre et disparaitre 
Et passer par le trou des serrures de fer? 


Von der Rolle, die der Teufel auf der mittelalterlichen 
Bühne gespielt hat, ist hauptsächlich das beibehalten worden, 
dass er die Menschen zu sinnlichen Genüssen verleitet.!) Den 
Fall der Griselidis durch alle möglichen teuflischen Mittel ins 
Werk zu setzen ist sein Hauptbestreben. 

Der Teufel als komische Figur und namentlich der ge- 
prellte oder dumme Teufel ist auch eine sehr beliebte Gestalt. 
Allerdings konnte ich einen verheirateten Teufel in der mittel- 
alterlichen Mysterienliteratur nicht ausfindig machen. Als Fia- 
mina ihn hintergeht, schäumt er vor Wut, dies wirkt selbst- 
verständlich auf den Zuschauer komisch. Lucifer brüllt, als er 
in Wut geraten ist ‚comme ung loup famis‘ (Wieck S. 37). 

Hauptsächlich sind es die verderbten Zustände in der 
Kirche, die Sittenlosigkeit der Geistlichen, sowohl der Priester 
als der Nonnen, welche den Spott der Teufel in den alten 
Mysterien zu erfahren haben. Diese satirische Seite des Teufels 
kommt in der Griselidis manchmal zum Ausdruck. Wieviel 
Satire liegt nur,verborgen in den fortwährenden Anzweiflungen 
jeglicher Tugend und in den häufigen Anspielungen auf das 
zerrüttete Eheleben aller Familien, denen der Teufel schon 


ı) Vgl. L’Enfant donne au Diable: Petit de Julleville, Mysteres. 


108 Richard Schuster. 


einen Besuch gemacht. Dass der Teufel ein persönlicher Gegner 
der Jungfrau und der Heiligen ist, hier speziell ein solcher 
der heiligen Agnes, sich aber doch am Ende als ein machtloser 
Gegner erweist, ist ein weiterer mittelalterlicher Zug. 

Im einzelnen kann jedoch kein bestimmtes Mystere aus- 
findig gemacht werden, welches das direkte Vorbild für Sil- 
vestres Teufel geboten hätte. Züge aus allen möglichen Mysteres, 
in denen Teufel teilweise die Träger der Handlung sind, wurden 
ın der Figur unseres Teufels vereinigt Sein innerstes Wesen 
ist der Widerspruch, er verneint das Gute und straft die Sünde, 
d. h. er hätte sie gestraft, wenn seine Anschläge geglückt wären: 


Mais la partie est belle que je joue! 
Deux ämes d’un seul coup! ına paire de damnes. 
Tous les demons jaloux vont en faire un beau nez! 


Auch hier ist er ‚die Kraft, die stets das Böse will und 
stets das Gute schafft.‘ 

Es bleibt mir nun noch übrig, die übrigen Personen ausser 
Griselidis mit kurzen Strichen zu charakterisieren. 

Silvestre folgt noch der alten Gewohnheit der französischen 
Bühne die Helden, den Marquis und Griselidis, durch ihre Ver- 
trauten Gondebaut und Bertrade einzuführen; über alle Vor- 
gänge vor dem Beginn der Handlung werden wir durch sie 
vorzüglich unterrichtet. Der Dichter hat sich gehütet den Cha- 
rakter des Marquis zu sehr modernem Empfinden anzupassen 
und hat ihm ein gut Teil von dem Inhalt seiner Zeit gegeben. 
Klar und voll tritt seine Persönlichkeit heraus, eine hochgesinnte, 
reine Seele umfasst er mit unerschöpflicher Liebe seine Grise- 
lidis und sein Söhnchen. Ein Zeichen für die Feinheit von 
Silvestres bildender Kraft ist es, dass er zum Liebesmotiv ge- 
'rade dasjenige hinzugefügt hat, das neben der Liebe am wirk- 
samsten in der Seele des Mannes ist: Pflicht- und Selbstgefühl. 
Ein solcher Mann musste alle Anschläge des Teufels siegreich 
überwinden. Die Begeisterung, in der er für Griseldens Treue 
und für die der Frau überhaupt erglüht, wird glänzend ge- 
rechtfertigt. Wenn von einer Schuld seinerseits geredet werden 
kann, so finden wir sie bei einer so sehr ins Ideale gehobenen 
Figur leicht begreiflich, er hat durch das Eingehen der Wette 
mannigfaltig und heftig gelitten in den qualvollen Augenblicken, 
als er Frau und Sohn auf immer verloren glaubte. Alle Fallstricke 


Griselidis in der französischen Literatur. 109 


und Anschläge des Bösen haben es nicht vermocht, ihn, der 
nichts Arges und Böses in der eigenen Brust kannte, von der 
Schuld seiner Frau zu überzeugen, und sich selbst schreibt er 
alle Schuld zu: 

Car moi j’ai merite tout ce que j’ai souffert, 

Car j’ai tente le Ciel, croyant braver l’Enter. 

Dieser Ehrenmann mit dem Silberhaar, mit seiner 
weich verklärten, ins Ideale erhobenen Figur, in der Mischung 
von reinem Seelenadel, tiefer Empfindung und treuer Gatten- 
liebe bildet den denkbar schärfsten Gegensatz zu dem traditio- 
nellen Grafen von Saluzzo und ist eine durchaus glückliche 
Erfindung der beiden französischen Dichter. 

Etwas anders geartet als der Herr ist sein wohl gleich- 
alteriger Diener und Waffengefährte Gondebaut. Jenem treu 
ergeben verbindet er mit seiner kriegerischen Sprache auch 
wirkliche Tapferkeit, und schlecht wäre es dem Teufel ergangen, 
gegen den er, der allezeit Ehrliche, einen instinktiven Wider- 
willen fühlt, hätte sich Griselidis nicht beschwichtigend ins 
Mittel gelegt. Wir verzeihen ihm gern, dass er etwas zu sehr 
‚lanfaron‘ ist, und seine Erscheinung ist uns viel sympathischer 
als der saft- und kraftlose, furchterfüllte und skeptische Prior. 

Loys, Griseldens Söhnchen, entfaltet einen Glanz und eine 
Eleganz des sprachlichen Ausdrucks an den paar Stellen, wo 
er redend vorkommt, dass uns dies bei einem Kinde seines 
Alters höchlichst verwundern muss. 

Die liederfrohe Bertrade, die ihrer Herrin bis in den Tod 
ergeben ist, hält anfangs, wenn auch nicht durchgehends, unser 
Interesse für sie wach. Durch die reizende Schilderung der 
Brautwerbung des Grafen um Griselidis aus ihrem Munde milde 
gestimmt, werden wir leicht über die Unwahrscheinlichkeit hin- 
wegsehen, dass dieses Kammermädchen des zwöliten Jahrhunderts 
abends ihrer Herrin den Homer und den Virgil vorliest. Eher 
ängstlich als mutig veranlagt, macht sie doch Fiamina gegen- 
über den schüchternen Versuch auszusprechen, nie werde sie 
ihr aus Liebe dienen. 

Wenn auch das moderne Mystere in dramatischer Hinsicht 
nicht allen Anforderungen gerecht wird, die man an ein echtes 
Theaterstück zu stellen berechtigt ist, so ist es den Verfassern 
doch gelungen, den an sich so spröden Griselidisstoff auf der 
Bühne einzubürgern. 


110 Richard Schuster. 


Wegen der sinnigen Darstellung edler Gefühle, treuer 
alles überwindender Gattenliebe, achtunggebietender, Not und 
Gefahren überdauernder Anhänglichkeit zwischen Herr und 
Diener, neben denen wir das diabolisch groteske Element auf 
den zweiten Platz zurückweisen müssen, verdient diese Griselidis, 
nicht der Vergessenheit anheimzufallen. Die schöne Form, die 
sich dem Inhalt ebenbürtig an die Seite stellt, der mit Meister- 
schaft behandelte freie Vers tragen wohl das ihrige dazu bei, 
dem Werke dauernde, ungeschwächt bleibende Anerkennung 
‘zu erringen. 


Griselidis in der französischen Literatur. 111 


Bei der grossen Bedeutung, welche für Silvestre’s Dich- 
tungen die Bilder und überhaupt die Elemente der dichterischen 
Sprache besitzen (oben S. 89), möchte ich nicht unterlassen, 
die Eigenart der poetischen Sprache unserer Dichter an den 
hervorstechendsten Gattungen der Tropen zu zeigen. 

Als zu behandelnde Tropen habe ich die der Personifika- 
tion, der Vergleichungen und der Allegorie gewählt. Meines 
Erachtens prägt sich in ihnen als den weiter ausgeführten Arten 
des Tropus die Individualität der schaffenden dichterischen 
Phantasie am schärfsten aus. Von den ausgeführten Gleich- 
nissen sind hauptsächlich Bilder und Vorgänge aus der Natur 
zur Vergleichung herangezogen worden. Adler und Schwalbe, 
Sonne und Meer, Luft und Wind, Rose und Lilie verwenden 
die Dichter der Reihe nach in Gleichnissen und nicht zum 
letzten verdanken wir der strahlenden Schönheit der Heldin 
einige der anmutigsten Bilder. 


Die Vergleichungen. 


Ich habe nach Wackernagel (a. a. O. p. 387) die Ver- 
gleichungen in zwei Klassen eingeteilt, nämlich in Vergleiche 
und Gleichnisse. Die beiden Klassen unterscheiden sich vor 
allem äusserlich nach ihrem Umfange, denn während der Ver- 
gleich von zwei irgendwie verwandten Begriffen meistens nur 
die Eigenschaft hervorhebt, die den beiden Begriffen gemeinsam 
ist oder sie doch ähnlich macht, stellt das Gleichnis eine ganze 
in sich abgeschlossene Reihenfolge von Vorstellungen neben 
einander: 

‚Es lässt neben eine der Wirklichkeit angehörige, voll- 
ständige Anschauung noch eine andere gleichfalls der Wirklichkeit 
entnommene treten, damit jene durch diese noch anschaulicher 
werde, als sie es schon für sich allein sein würde.‘ 

Der Vergleich hat wegen der Einfachheit seiner Konstruk- 
tion auch ausgedehnte Verwendung in der Sprache des ge- 
wöhnlichen Lebens, das Gleichnis dagegen gehört fast gänzlich 
der poetischen oder erhabenen Sprache an. 


112 Richard Schuster. 
I. Vergleiche. 


Die emsige Arbeit der in den Krieg ziehenden Mannen 
des Grafen, die ihre Waffen scharf und blank machen, vergleicht 
Gondebaut mit der Tätigkeit der Höllenschmiede: 


(4) Regardez! Tous polissent le fer 
Comme des forgerons d’enfer. 


Der Gräfin erscheinen die Augen ihres Söhnleins reiner 
als der Himmel: 


(37) Je vais, dans les yeux de ınon fils, 
Comme en un ciel plus pur adorer ta cl&mence. 


Die Traurigkeit des Herzens wird verglichen mit einem 
sternenlosen Himmel und einem öden segelleeren Meere: 


(53) Et plus triste est mon coeur amer 
Que le ciel sans lumiere et que la mer sans voile! 


Ein kristallklarer Diamant erscheint Fiamina wie zahllose 
Tautropfen in einem Lilienkelch: 


(64) L’eau de ces diamants semble, ä mon cou sans plis, 
Un ruisseau de rosee aux petales d’un lis. 


In Griseldens Innern sieht es aus wie in einem Gehölz, 
über das der Orkan dahinbrauste: 


Gomme au bois oü passa l’orage 
Autour de moi tout est brise. 


Ewige Nacht ist ihr erwünschter als das traurighelle 
Tageslicht: 


(71) Mieux vaudrait la nuit &ternelle 
Que la triste clartE du jour. 


Der tote Prior wird mit einem Stein verglichen: 


(93) II Etait rigide et froid comme la pierre, 
Mais alentour de lui, tout semblait en pri£re. 


2. Das ausgeführte Gleichnis. 


Wie der Orangenbaum die Heidelbeeren beherrschend 
überragt, so übertrifft die unvergleichliche Schönheit Griseldens 
die ihrer Genossimnen. | 


Griselidis in der französischen Literatur. . 113 


(7) Mais, comme au coeur d’un buisson, l’oranger 
De son charme hautain domine les airelles, 
Elle &tait non pareille aux autres pastourelles: 
Genevietve la Sainte &tait sans doute ainsi. 


Ihrer Schönheit gilt auch das folgende Gleichnis: 


(9) Elle est au jardin des tendresses 
Non pas la rose, mais le Iys. 
Elle charme les monstres me&me! 
Ces corsaires fameux, qu’autour de ce rocher 
On sent röder, n’en veulent approcher 
Que pour la voir dans sa gräce supr&me. 


Das Markgrafenschloss von Saluzzo wird mit einem Adler- 
horste verglichen: 


(13) De ce chäteau les murs &Eloignent tout danger, 
Comme l’aire d’un aigle inaccessible et haute, 
Sa triple enceinte, au loin, va dominant la cöte 
Et le vol des milans & ses pieds vient mourir. 


Die Liebe, der lange Entfernung auferlegt wird, wird mit 
einem Schwert in Beziehung gestellt, das glänzender und besser 
gehärtet aus dem Kampfe zurückkehrt: 


(14) Comme sort du combat l’Epee 
Plus Eclatante et mieux trempee, 
Vers elle plus ardent, reviendra votre amour. 


Die übermenschlichen Eigenschaften des Teufels werden 
in folgendem Gleichnis beschrieben: 


(22)... plus subtil que Pair, plus l&ger que le vent 
Je puis, comme il me plait, paraitre et disparaitre. 
Et passcr par le trou des serrures de fer? 


Etwas gesucht und wenig gelungen erscheint uns das Bild, 
das die über dem Meere strahlende Sonne mit der Hostie in 
der Hand des Priesters vergleicht: 


(26) Devant ce soleil qui monte aux cieux clairs 
Et rayonne au-dessus du calice des mers, 
Comme aux mains du prätre l’hostie, 

Je vous donne ma foi librement consentie. 


Ein Gleichnis aus dem Pilanzenreich geben uns die nach- 
stehenden prächtigen Verse, die inhaltlich an Lamartine erinnern: 
8 


114 Richard Schuster. 


(26) On est plus pres de Dieu sur les collines vertes 
Dans la solitude des soirs 
Quand les roses encore ouvertes 
Se balancent dans l’air comme des encensoirs! 


Das Lächeln des taufrischen Morgens wie das Lebewohl 
des strahlenden Abends vermögen es nicht, Griseldens Schmerz 
zu mildern und aufzuhellen: 


(36/37) Sourire de l’aube vermeille, 
Adieu du soir Eblouissant 
N’ont pour moi qu’une ombre pareille. 
Tout m’est douleur quand je pense & l’absent! 


Das wild wogende Meer gleicht einem Ungeheuer, das, 
Geifer im Munde, Tod und Verderben bringt: 


(37) Bientöt la mer sera farouche 
Et, telle qu’un monstre qui mord, 
Avec des baves & la bouche, 
Dans ses flancs bercera la mort! 


Der Schönheit Griseldens widmet Alain diese Verse: 


(53) Roses, depouillez les couleurs 
Qui vous faisaient ses soeurs vermeilles! 
Vos gräces, aux siennes pareilles, 
N’ont plus rien qui me charme, ö fleurs 
D’oü s’est enfui le vol en pleurs 
Des papillons et des abeilles. 


Sehr hübsch und anschaulich wird uns geschildert, wie 
der Markgraf auf dem Schlachtfielde inmitten erschlagener Feinde 


einschläft: 
(aaa Drus comme des raisins, 
Sur P’herbe il vendangeait gaiement les Sarrasins, 
Et puis il s’endormait sur la terre trempede 
Ayant, pour tout rideau, l’ombre de son Epee! 


Wie ein dumpf klagendes Meer wogte und stürmte es in 
dem Herzen des Markgrafen, als er im heiligen Kriege war, 
fern von seinen Lieben zu Haus: 


(89) O chere cre&ature! 
Puisque ton coeur me reste, il n’est plus de blessure 
Dans ce coeur dechir& dont chaque battement 
Des rives de l’exil, comme une mer plaintive, 
Vers ta che£re beaute montait fidelement. 


Griselidis in der französischen Literatur. 115 


Einer gefangenen, nach Freiheit sich sehnenden Schwalbe 
gleich, klagt und stöhnt das Herz Griseldens: 


Le mien &tait l’'hirondelle captive 
Dont l’aile en vain s’ouvre au souffle des flots, 
Et dont le vent emporte les sanglots 


Wie die ausgedörrte Erde sich am Rande der Bächlein 
endlich der labenden Wasser erfreut, so trinkt der Marquis in 
den lang entbehrten Küssen seiner Gattin Erquickung: 


Comme au bord des ruisseaux, apres l’aride plaine, 
Laisse-moi bien longtemps boire dans ton haleine 
Le parfum rajeuni de ton premier baiser! 


Der Tod des Priors gibt unserem Dichter Anlass zu folgen- 
den schönen Versen: 


De beaux oiseaux venus, je crois, du Paradis, 

Chantaient un chant plus doux que les De Profundis 

Et de grands Iys mettaient, flambeaux aux flammes vierges, 
A ton front nimbe d’or l’Eclat tremblant des cierges. 


Die Personifikation. 


Unter Personifikation ist nach Wackernagel (a. a.O. pag. 397) 
der Tropus zu verstehen, welcher ein lebloses, namentlich ein 
abstractes Ding in ungewöhnlicher, vom sonstigen Sprachge- 
brauch abweichender Weise als ein beseelt wirkendes, als 
handelnd, hörend, redend hinstellt, daher dem Leblosen ein 
Bewusstsein, dem Abstrakten eine Körperlichkeit verleiht. 

Silvestre und Morand machen hie und da von der Per- 
sonifikation Gebrauch und erreichen dadurch grössere Leben- 
digkeit der Darstellung. 

Personifiziert werden bei uns der Abend, die Zeit, der 
Traum, die Nacht, der Schatten und die Sonne. 


Beispiele: 


(10) Quand le soir se rev&t de velours et de moire 
Pour voir les flots dormans, elle vient lä; je lis. 


(37) Et, du temps, le pas monotone, 
N’a sonne, dans mon coeur, que le glas des hivers. 


116 Richard Schuster. 


(54) Mon räve a perdu son chemin 
L’astre qui le guidait s’est envol& dans l’ombre. 


(68) O nuit, Etends sur moi la pudeur de tes voiles, 
Jai peur, en me levant, d’accrocher les &toiles. 


(70) Sur mon äme et sur ma prunelle 
Une ombre a mis son voile noir. 


(73) Ces soirs-läA le soleil se couchait dans du sang 
Et suspendait au ciel une töte coupe&e! 


Es bleibt mir nur noch übrig anzuführen, dass der Prolog, 
der zur Entwicklung der Handlung nichts beiträgt, sondern als 
eine Art Festgruss an das Publikum betrachtet werden muss, 
absichtlich in älterem französischem Stile geschrieben ist. Es 
ist dies umso beachtenswerter, als das Mystere selbst, von 
einigen fast veralteten Wortformen abgesehen, in Ausdruck und 
Form ganz modern gehalten ist. 


Griselidis in der französischen Literatur. 117 


Den Verfassern war bekannt, dass Petrarka und Boccaccio 
eine Griselidis verfasst haben, doch geben sie im Prolog aus: 
drücklich das alte Mystere (richtiger Histoire) „Le Miroir de 
’Epouse fidele“ als Vorbild an. Eine Vergleichung der Inhalts- 
angaben des alten und neuen Mysteres lässt ohne Weiteres 
erkennen, dass der Stoff nach Handlung, Charakteren und 
Motivierung zeitgemäss abgeändert wurde. Griselidis erscheint 
mehr als Typus der getreuen denn als der der gehorsamen Gattin. 
Die Zahl der Personen ist im modernen Mystere geringer, nur 
Griselidis und der Marquis sind beiden Dramen gemeinsam, 
doch äusserlich ist in beiden der Prolog beibehalten, wenn 
auch im Drama von 1395 kein Epilog das ganze Schauspiel 
schliesst. 

Das Motiv der Verstossung der Heldin haben die Verfasser 
zweifellos dem alten Mystere oder einem Volksbuch entlehnt, 
wenn sie auch dem Charakter des Grafen das Grausame und 
Barbarische genommen und diese Züge auf den Teufel über- 
tragen haben, der nun einmal in einem Mystere, selbst in einem 
modernen, nicht fehlen darf. Der Charakter des Grafen hat 
zum ersten Male hier gegenüber der Überlieferung eine glück- 
liche Abänderung erfahren, diese aber bedingte die Einführung 
zweier gänzlich verunglückter Figuren, des Teufels und der 
Teutfelin. 

Einzelne kleine Züge sind beiden Dramen gemeinsam. 

Der Ehering spielt eine Rolle in dem alten Mystere; Grise- 
lidis gibt ausser ihren Kleidern ihren Ring mit den Worten 
zurück: 


2148 Et ton annel te Restitue 
O le quel jadiz mespousas 
Autres anneaux que me donnas 
Riches joyaux et vestemens 
Et les riches aornemens. 

2153 Dont par ta grace erc paree 


Im modernen Stück stellt Fiamina die Rolle des Grafen 
dar, sie fordert Griselidis folgendermassen zur Zurückgabe des 
Hochzeitsringes auf: 


Que l’anneau nuptial par vous me soit remis. (S. 43) 


118 Richard Schuster. 


Petit de Julleville gibt im ersten Band seiner Mysteres 
auf S. 182 die Antwort der Griselidis bei der Verstossung nach 
dem Druck wieder, in dem die Verse 2134—2167 ausgelassen sind. 

[S. 183, 1. Zeile: „Sans regret du lieu je me pars“ entspricht 
dem Vers 2133 der Hs., und die nächste Zeile: „En recompense 
seulement“ dem Verse 2168.] 

Der Hs. folgend zitiere ich die Verse 2154—2167. 


2154 En ta chambre sont sy magree 
Retourner en la maisoncelle 
Dont je yssy poure pucelle 
Nue de trestous biens nudains 
Et nue mon Retour y clains 
Sanz en Retenir Rien qui soit 

2160 Sauf ce que ce me sembleroit 
Chose jndigne et non afferable 
Que cestui ventre miserable 
Duquel furent les enfans nez 
Que de ton sanc as engendrez 

2165 Deust au peuple apparoir tous nuz 
Pour quoi je te suppli sanz plus 

2167 Sil te plaist et non autrement. 


Es ist sehr wahrscheinlich, dass Armand Silvestre gerade 
diesen Abschiedsmonolog bei Le Petit de Julleville gelesen und 
gekannt hat, verschiedentlich scheint er von ihm inspiriert 
worden zu sein. Zum Vergleich liessen sich vielleicht noch 
folgende von Griselden im modernen Mystere bei ihrer Ver- 
stossung gesprochenen Verse anführen, die zugleich aufs Neue 
zeigen, mit welcher Meisterschaft Armand Silvestre den modernen 
Vers handhabt: 


S. 48/49. Ces bijoux sont & vous, prenez les... je le veux 
Ces perles qui mettront des etoiles de flamme, 
Parmi l’or de vos blonds cheveux, 
Le jour de !’hymenee & moi furent offertes. 
Comme elles ont päli! Si, de ces pendants d’or 
Epaves d’un passe que je cheris encor, 
Les Emeraudes sont moins vertes, 
C’est qu’en moi l’esperance est prete de mourir. 
Nos bijoux avec nous parfois semblent souffrir! 


Der Prolog vom Jahre 1395 ınit seinen 100 Versen ist zur 
Abfassung des Prologs von 1891, der 55 Verse zählt, nicht 


119 


Griselidis in der französischen Literatur. 


benützt worden und eine Entlehnung nur in einem Falle als 
möglich nachzuweisen. Wenn man absolut eine Ähnlichkeit 
herausfinden will, so ist es die, dass der Gedanke, man solle 
sich in Griselidis spiegeln können, bei den modernen Dichtern 
in erweiterter Gestalt wiederkehrt. 


Le mystere d’antan — qui nous sert de modele — 
S’appelle: „Le Miroir de l’Epouse fidele“, 

— Regardez —- vous un peu, mesdames entre vous; 
Et l’une & l’autre, pour rassurer vos Epoux. 
Servez-vous de miroir!.... 


Diese Verse können in eine gewisse Parallele zu den 
folgenden des alten Stücks gesetzt werden: 


(4) Qui des dames est souueraine 
Vueille tous ceulz de mal garder 
Qui en paix veuldront Regarder 
Dune dame la vraye histoire 
Qui tant est digne de memoire 
Que ses euures sont appellees 
(10) Miroir des dames mariees. 


Der Titel „Le miroir des dames mariees“ war auch bei den 
Volksbüchern sehr verbreitet, und die weitere Ausführung des 
Bildes kann auch hierauf zurückgehen. 


Griselidis wird mit folgenden schönen Versen im Prologe 
bedacht, die mit den nachstehenden im alten Mystere ver- 
glichen werden können: 


(7) Dune dame la vraye histoire Dame Griselidis etait femme de bien 


(8) Qui tant est digne de mec- 
moire 
und ferner: 
(3) Se dieux nous en donne puis- 
sance 
Dicelle hystoire la semblance 
C’est de la vaillant griseldis 
Qui jadis fu feme au marquis 
(35) De Saluce nome gautier. 


Fantöme d’un passe charmant elle 
sS’avance 


Sous le ciel dor&e de Provence, 

Qui lui fait un dais de soleil, 

Blanche comme !’hostie en l’osten- 
soir vermeil. 


Über ihre Herkunft und tägliche Beschäftigung, ihre Armut 
sowie ihre Liebe und Fürsorge für ihren Vater geben uns die 
von Veneur gesprochenen Verse Auskunft: 


120 Richard Schuster. 


vgl. damit die Erzählung Bertrades: 
(754) C’est une tres poure pucelle Maistout estvrai dans cette histoire 
(55) Fille dun poure laboureur Griselidis etait la fille d’un berger 
Et, pauvre, les pieds nus, en ce 
temps peu prospere, 
Conduisait, par les champs, les 
moutons de son pe£re. 
(60) Au matin va soigneusement Mais, au coeur d’un buisson, l’orange 
Garder les brebis de son pere 
Auquel elle est & fille & mere 
Pour la bonte quelle Iuj fait 
(64) Sa quenouille filant y vait 


Häufig mischt Silvestre achtsilbige Verse mit Alexandrinern 
oder Zehnsilbnern und bildet durch eine zweimalige Wieder- 
holung des viersilbigen ‚Griselidis‘ einen von der Kritik beson- 
ders als gut und klangreich erwähnten Vers.') Möglich. ist, 
dass der Vers: 

(890) Vieng ga griseldis griseldis 
Ou est ton pere di le moy 


Lg 


Anlass zu diesem Achtsilbner des modernen Mysteres gegeben 
hat (vgl. S. 7). 
Von Janicola fordert der Marquis Griselden zur Gemahlin: 


(920) Une chose vuel et me plaist 
C’est que par toy me soit donnee 
Sa fille a feme espousee. 


Man vergleiche damit die reizende Schilderung der Werb- 
ung des Marquis bei den beiden modernen Dichtern: 


(7) Jamais ange du Paradis 
N’a d’une musique pareille 
Enchante quelque humaine oreille. 
Lors devant elle, il se mit a genoux 
Courbant le front ainsi que sous un frisson d’aile, 
Et lui dit sur un ton tres doux: 
„Griselidis, sois ma femme fid£le.“ 


Sehr bemerkenswert in der Histoire ist die Abnahme des 
Gehorsamversprechens von seiten des Grafen, das entsprechend 


ı) Sarcey sagt: „Vous trouverez encore dans ce premier acte des stances 
amoureuses dont le dernier vers revient comme un refrain, Griselidis, Griselidis; 
et Ü y a un rappel delicieux de ces stances au dernier.“ 


Griselidis in der französischen Literatur. 121 


der mittelalterlichen Auffassung von der unbedingten Unterord- 
nung des Mannes unter das Weib gehalten ist. Freiwillig (950) 
spricht Griselidis ihre vollständige Unterwerfung unter den 
Willen des Grafen aus, und alles, selbst den Tod will sie 
gerne erdulden, nur beachte man, dass ihre Antwort wesent- 
lich, wenn auch verstärkt die Bedingungen enthält, die der Graf 
ihr vorspricht. 

Im modernen Mystere erfolgt ihre Antwort freiwillig, ohne 
jedwede vorherige Beeinflussung verspricht sie dem Marquis 
unbedingten, schrankenlosen Gehorsam: 


„Monseigneur, 
D’un coeur reconnaissant j’accepte cet honneur. 
La volonte du Ciel sans doute &tant la vötre, 
Desormais je n’en aurai d’autre 
Que vous ob&ir sans merci! 
Pres de vous, loin de vous absente 
Pour quelque douleur qu’il ressente, 
Mon coeur n’aura d’autre souci. 
 Disposez de votre servante.“ 
Et Marquise elle etait la semaine suivante. 


Dann erinnert der Schwur, den sie ihrem zum Kriege 
gegen die Sarazenen ausziehenden Gatten leistet (S. 26), einiger- 
massen an die Verse der Histoire (976-—980): 


Je vous donne ma foi librement consentie; 

Que mes gages d’amour vous soient donc conlirmes, 
Sachez que je vous aime autant que vous m’aimez. 
Votre volonte, me fut-elle möme 

Cruelle ä mourir, j’acepte mon sort 

Et j’obeirai puisque je vous aime 

Jusque dans la mort. 


Das ist alles, was an Ähnlichkeit und Übereinstimmung 
zwischen den 500 Jahre auseinander liegenden, und natürlich 
in Anlage und Inhalt so sehr verschiedenen beiden Bearbeitungen 
nachzuweisen ist. Doch werden wir sehen, dass, trotzdem 
Armand Silvestre keine andern Griselidisbearbeitungen als Vor- 
bild nennt, Spuren des Einflusses von Ostrowski deutlich sichtbar 
sind. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Silvestre die alte 
Histoire in der Hs. selbst eingesehen oder dass ihm die in 
wenigen Exemplaren vorhandene Arbeit Groenevelds vorgelegen 
hat. Jedenfalls wird in seinen Schriften hierüber nichts erwähnt. 


122 Richard Schuster. 


Einleuchtender ist die Annahme, dass er etwa Petit de Julle- 
villes Analyse, die mit reichlichen Zitaten versehen ist, gekannt 
und benutzt hat. 

Eine Übersetzung der Petrafkaschen Griselidis wird er 
jedenfalls in einem der Volksbücher eingesehen haben, warum 
sollte er nicht etwa die Patience de Griselidis in der Bibliotheque 
Bleue gekannt haben? 

Bei aller Verschiedenheit in der Ausführung beider Werke 
ist als sicher anzunehmen, dass die Verfasser des modernen 
Mysteres Ostrowskis Griselidis gekannt und ihr auch einiges 
entlehnt haben, wenn sie auch im Prolog davon schweigen.') 

Wie Ostrowski haben sie ihren Stoff in drei Akte ein- 
geteilt. Im ersten Akt wird bei O. und Silv. die für Griselidis 
verhängnisvolle Wette geschlossen. Die äusseren Umstände, 
die die Wette veranlassen, sind nicht gleich. Gemeinsam ist, 
dass der Marquis von Saluces ebenso wie Perceval das Mädchen 
aus niederem Stande, das er heiratet, über alles liebt und in 
ihr das Ideal ehelichen Gehorsams und ehelicher Treue erblickt; 
die Anzweiflung dieser Eigenschaften einerseits, Eifersucht und 
dadurch bedingte Sticheleien und hämische Bemerkungen an- 
dererseits bringen die Wette zum Abschluss. 

Der Marquis scheint keinen Einsatz zu machen, ja, er 
gibt noch obendrein seinen Ring als Piand her, Parceval da- 
gegen soll, wenn er Gewinner ist, die stolze Ginevra ihre Kniee 
vor dem Köhlerkinde beugen sehen. Noch höher aber ist der 
Lohn meines Erachtens, wenn Griselidis bei Armand Silvestre 
siegreich aus allen Versuchungen hervorgeht, die Tugend des 
Weibes hat in ihr ihre Verkörperung gefunden und sie, als Ver- 
treterin ehelicher Treue, hat im erfolgreichen Kampfe mit den 
finstern Mächten ihr ganzes Geschlecht rehabilitiert. Der Mar- 
quis von Saluces ist sehr human gezeichnet und zieht, die 
grausamen Martern nicht ahnend, denen sich Griselidis unter- 
ziehen muss, in den Krieg. Perceval aber ist selbst der Voll- 
strecker der in der Wette ausgemachten Bedingungen. Ist auch 
die Reihenfolge der Proben verschieden, Cedric bei Silvestre 
gar nicht eingeführt und daher die Verstossung ausser durch 


1) Ich führe nach den Anfangsbuchstaben der Verfasser folgende Abkürz- 
ungen der Griselidisbearbeitungen ein: 
- H= Histoire. P= Perrault. S= Saintonge. I= Imbert. O = Ostrowski. 
Siv. —= Silvestre. 


Griselidis in der französischen Literatur. 123 


den Gatten noch durch den eigenen Vater notwendigerweise weg- 
gelassen, so finden wir doch bei aller Verschiedenheit in der 
Ausführung und der angewandten Mittel das gleiche Endresultat: 

1. Ihr Sohn wird ihr entrissen, das eine Mal muss sie 
ihn freiwillig ausliefern, um den Vater vom Tode zu retten, 
das andere Mal wird er ihr direkt geraubt. 

2. Ihre Verstossung versetzt sie wieder in grosse Armut, 
allen Schmuck und alle Kleider muss sie herausgeben. 

3. Bei Ostrowski soll sie, nachdem sie von Gatte und 
Vater verstossen und ihr Söhnlein ihr entrissen wurde, sich 
darein ergeben, als Gefangene in einem Kloster ihre Tage zu 
beschliessen. Nach Silvestre will sie sich freiwillig samt ihrem 
Söhnlein hinter Klostermauern zurückziehen. 

4. Auch bei ©. ist die Versuchung ihrer Treue nach vor- 
heriger Erduldung grosser Seelenmartern festzustellen. Eine 
neue schöne Zukunft wird ihr in Aussicht gestellt und Ersatz 
für alle bisherigen Leiden verheissen. Alain, der junge Trou- 
badour, ist allerdings eher zu dem Verführeramt geeignet als 
der Helfershelier der ehebrecherischen Ginevra, der finstere 
Gauvin,!) der vielleicht dem Teufel bei Armand Silvestre Modell 
gesessen hat. | 

5. Dann wäre noch auf das Verhältnis von Tristan und 
Perceval hinzuweisen, das in dem zwischen Gondebaut und 
dem Marquis ein allerdings entierntes Analogon hat. 

6. Die sittenlose Königin Ginevra hat mit der Teufelin 
Fiamina gemeinsam, dass sie beide ihre Männer hintergehen 
und Griselidis persönlich quälen. 

Es wird sich verlohnen nach Hervorhebung der Haupt- 
punkte gegenseitiger Übereinstimmung etwas näher auf die 
Einzelheiten einzugehen. 

Die Beschreibung der Persönlichkeit der Heldin und ihres 
Aussehens bei O. steht, was Wohllaut der Sprache und Schön- 
heit der Bilder anbetrifit, nicht viel hinter Silvestres Darstellung 
zurück (vgl. S.7). 

Zum Vergleich mögen wegen der Seltenheit der O.’schen 
Griselidis die folgenden Verse im Wortlaut angeführt werden: 

„Quel peintre ou quel po£te oserait vous decrire 
Sa beauteE de Madone et son jeune sourire ? 


ey) Tous les mawvais penchans de la nature humaine 
Se peignent sur ses traits, esclave d’une reine. (O. I, 4.) 


124 Richard Schuster. 


Si jamais un archange envoy& du Seigneur 
Paraissait A nos yeux, cet esprit de bonheur 
Aurait un corps pareil ä celui qui l’abrite; 

La beaut€ n’est pourtant que son moindre merite, 
C’est la splendeur d’une äme immortelle! le jour, 
Oü. naissant d’une &toile au celeste sejour, 

Ce chef d’@uvre Echappa de sa main satisfaite, 
Dieu lui baisa le front et lui dit: „Sois parfaite!“ 
Jamais forme plus belle, esprit plus radieux 

Ne porta le reflet du cr&ateur des cieux.“ 


Der Liebreiz und der Wohllaut ihrer Stimme begeistert 
den Marquis in so hohem Grade, dass er die Töne, die ihrem 
Munde entströmen, noch über den Gesang der Engel stellt. 
Ein ähnliches Lob wird ihr von Ginevra zu teil, das doppelten 
Wert hat, wenn man bedenkt mit welchem Hass diese Grise- 
lidis, die sie aus Percevals Herzen verdrängt hat, verfolgt. 


Sa voix a je ne sais quel prestige vainqueur 
Dont j’ai peine, moi-m&me ä defendre mon coeur. 


Das Gehorsamsversprechen, das der Marquis ihr abnimmt, 
hat bei O. eine Fassung, die die schwersten Bedingungen ent- 
hält und die künftigen Verwicklungen vorahnen lässt, 


Veux-tu m’etre fidele ainsi qu’& ton &poux 
Quand je serais proscrit du pays oü nous sommes 
Desherite, maudit du ciel, maudit des hommes? 
Oui, seigneur, je le veux: — Griselde, viens ä moi: 
Lui dis-je avec transport: je te donne ma foi. 
(Vgl. auch das Gehorsamsversprechen bei Silvestre auf S.8 des Mysteres 
und in der Histoire S. 161/162 Petit de ].) 


Bei Silvestre muss Griselidis Fiamina den Hochzeitsring 
zurückgeben (S. 43), Perceval zerbricht ihn: 


Les liens qu’entre nous l’amour seul autorise, 
Ainsi que cet anneau, gage de mon honneur, 
Sont rompus .... D&sormais, sois libre! 

(Il rompt l’anneau.) 


Hier wie dort spielt das Kloster eine Rolle, nur erfolgt 
bei O. die Wahl des Klosters gezwungen, bei A. Silvestre frei- 
willig (vgl. S. 44). Bei O. zeigt an dieser Stelle die Heldin 
frommere Ergebenheit. 


Griselidis in der französischen Literatur. 125 


Je pourrai prier Dieu pour lui, dans ma retraite 
Au sein du monastere oü je vais m’enfermer, 
Il me sera permis de souffrir et d’aimer .... 
Jentendrai prononcer son nom: j’en serai fiere. 


Griseldens Sohn wird an Bord eines Schiffes gebracht, 
dorthin soll sie gehen, um für den Preis ihrer Ehre Loys vor 
Tod oder- Sklaverei zu retten. 

Bei O. ist auch ein skandinavisches Schiff, Gauvin gehörig, 
im Hafen verankert, das sie einem ändern Schicksal zu- 
führen soll: | 


(Gauvin:) Pres de Stafford,') 

Un vaisseau scandinave est ancre dans le port; 
Le vaisseau m’appartient. Aux clartes des £toiles, 
Vers des bords plus heureux je dirige mes voiles; 
Et loin de Perceval d’un tyran deteste 

Je vous rends la patrie avec la liberte. 


Wörtliche Anklänge finden wir nirgends zwischen Ostr. 
und Silv., doch ist es nach der vorstehenden Vergleichung nicht 
zweifelhaft, dass Silv. O. gekannt hat und der Einfluss dieses 
Werkes sich allenthalben im Gange der Handlung geltent macht. 

In den anderen Griselidisbearbeitungen, also in denen von 
Perrault, von M"e de Saintonge und von Imbert ist, was die 
beiden epischen Bearbeitungen, die Perraultsche und die Im- 
bertsche, betrifft, im allgemeinen auf das Abhängigkeitsverhältnis, 
wie es zwischen der Histoire und dem modernen Mystere fTest- 
gestellt wurde, hinzuweisen. Beide stehen, Imbert allerdings 
weniger als Perrault, im Banne der Überlieferung und bringen 
keine wesentlich neuen Momente in die Erzählung. 

Es bleibt also noch die Come&die genannte Griselidis der 
Madame de Saintonge zu besprechen. Sie ist dramatisiert, in 
flüssigen Alexandriner geschrieben und in fünf Akte eingeteilt. 
Eine Vergleichung der Inhaltsangaben von Saintonge und Silv. . 
lässt von vornherein erkennen, dass ein Abhängigkeitsverhältnis 


ı) Von dem wirklichen Schauplatz der Erzählung haben sowohl O. wie Silr. 
keine rechte Vorstellung. Nach ihnen liegt das Grafenschloss am Meer, doch ist 
dieses Hunderte von Kilometern vom Ozean entfernt, wie ein Blick auf die Karte 
ohne weiteres zeigt. Die Abtei Stafforl existiert wirklich und ist nicht bloss eine 
Erfindung des Dichters. Sie liegt nach Meyer (s. Konvers.-Lex. Artikel: Saluzzo) 
nordwestlich von Saluzzo, hat eine gotische Kirche und wurde 1131 von Manfred T., 
Markgrafen von Saluzzo gegründet.) 


126 Richard Schuster. 


zwischen beiden nur in ganz äusserlichen Dingen und zwar in 
der Namengebung besteht. Dass irgendwie auch nur leise 
Spuren der Beeinflussung von der Comedie auf den Gang der 
Handlung oder auf Einzelheiten des modernen Mysteres nach- 
zuweisen wären, davon kann keine Rede sein. 

Es könnten aber auch zeitgenössische Werke da und dort 
Einfluss auf den Aufbau der Handlung oder auch nur auf kleinere 
Einzelheiten ausgeübt haben.') 

Die Einflüsse früherer dramatischer Werke des Verfassers 
auf Griselidis nachzuweisen, ist mir nicht gelungen. 

Eine andere Frage ist die, ob etwa die Figur der Grise- 
lidis teilweise einem persönlichen Erlebnis des Verfassers ihr 
Entstehen verdankt. Diese Frage zu beantworten. ist deshalb 
nicht so sehr schwierig, weil der Dichter mit ungewöhnlicher 
Aufrichtigkeit in seinem Werk ‚Au pays des Souvenirs‘ (1891) 
sämtliche Frauengestalten, die in engere oder entferntere Be- 
ziehung während seines Lebens zu ihm traten, behandelt. Keine 
von den Frauen, die er anführt, haben wesentliche Züge mit 
seiner Heldin gemein. 

Ferner wäre möglich, dass die modernen Mysteres, wie 
sie namenrlich vor ihm Maurice Bouchor u. a. auf die Bühne 
gebracht haben, irgend wie beeinflussend auf sein Werk ge- 
wirkt hätten. Doch ist auch hier ein direkter Einfluss abzu- 
lehnen. Durch die Lektüre von Bouchors Werken und namentlich 
auf Grund von Lemaitres „Les Contemporains“ (vgl. 6. Bd. 
S. 379, 5. Bd. 347, 351, 2. Bd. 339)*) bin ich zu diesem Urteil 
gekommen, auch hätten Kritiker wie Sarcey und Lemaitre, die 
mit den Erscheinungen der letzten Jahre auf dem Theatermarkte 
besser als irgend einer sonst, bekannt waren, sich bei ihren 
Rezensionen über Griselidis die Gelegenheit nicht entgehen 
lassen, auf deutlich erkennbare Einflüsse anderer moderner 
Mysteres auf Griselidis hinzuweisen. 


1) Wie schon in der Einleitung hervorgehoben wurde, muss von E. Morand 
Abstand genommen werden, da sein Anteil am Entstehen des Mysteres nicht fest- 
gelegt werden kann und keine selbständigen Werke von ihm bekannt sind. 

2) ‚Jules Lemaitre schreibt im fünften Band auf S. 351: „Riviere et Caran 
d’Ache ont vessuseite chez nous sous une forme purement plastique et silencieuse, 
le „Mystöre“, car on ne saurait donner dautre nom al’ Epopee et ü la Tentation 
de samt Antoine, deuwc auvres d’une poesie naive et forte, velevees, ca et la, 
d’ironie moderne.“ 


Griselidis in der französischen Literatur. 127 


Dagegen sind zwei Werke von Einfluss auf Silvestre ge- 
wesen, die in der Art ihrer Anlage gar nichts mit modernen 
Mysteres zu tun haben. Es sind dies die dreiaktige Comedie 
Barberine (1835) von Musset und la Princesse de Bagdad, 
piece en 3 actes von Alexandre Dumas fils, (zum ersten Male 
am 31. 1. 1881 am Theätre frangais aufgeführt). 

Ein Blick auf das Personenverzeichnis zeigt uns, dass die 
Anzahl der Personen in Barberine und Griselidis ungefähr 
dieselbe ist; wenn auch Barberine in Anlage und Ausführung, 
in der Stellung der Personen zu einander, in Ort und Zeit der 
Handlung wesentlich verschieden von Armand Silvestres Gr - 
selidis ist, so zeigt doch der Grundton des Ganzen grosse 
Ähnlichkeit mit unserem Mystere. 

Graf Ulric, ein böhmischer Edelmann, verlässt seine schöne 
junge Frau um Kriegsdienste zu nehmen, hauptsächlich um im 
Solde des Mars den Grund zu einem Vermögen zu legen. Am 
Königshofe gut aufgenommen, sieht er die glänzendsten Aus- 
sichten der Verwirklichung nahe; am selben Hofe macht er 
die Bekanntschaft eines sonderbaren jungen Mannes. Dieser 
spielt den Erfahrenen, an die Tugend der Frauen glaubt er 
nicht, ja selbst das Herz Barberinens, Ulrics Frau, erkühnt er 
sich zu gewinnen. Im Beisein der Königin wird eine Wette 
eingegangen, als Einsatz dienen die Güter beider Edelleute. 
Die Versuchung der Treue beginnt, der junge ungarische Baron 
Astolphe de Rosemberg leidet kläglich Schiffbruch, und die 
Treue der Frau im allgemeinen wird durch den Ausgang des 
Stücks glänzend gerechtfertigt.) | 

Durch diese kurze Analyse erkennen wir leicht das Gemein- 
same beider Stücke, doch sind auch die Unterschiede sehr gross. 

Am besten kann man bei aller Verschiedenheit im Ein- 
zelnen den Marquis zu dem Graien Ulric in Parallele stellen. 
Beide Edelleute bauen unerschütterlich auf die. Treue ihrer 
Gattinen und keine Macht der Erde noch der Hölle kann ihren 
felsenfesten Glauben untergraben; das Eingehen der Wette 
gegenüber feindlichen Mächten geht bei aller Verschiedenheit 
im Alter beider, der Marquis ist vorgerückteren Alters, Graf 
Ulric noch in der Blüte der Jugendjahre, bei aller Verschieden-. 
heit des Einsatzes doch auf dieselbe Wurzel zurück. Hier wie 
02 Die Barberine gehört in den Kreis der von G. Paris in der Romania: 
(Band XXVII) behandelten Erzählungen von der ‚Gageüre‘. 


128 Richard Schuster. 


dort wird ihr blindes Zutrauen zu der Gattin nicht getäuscht 
und findet den gebührenden Lohn. Die Rollen Astolphes und 
des Teufels haben trotz anscheinender äusserer und innerer 
Unterschiede doch eine gewisse Verwandtschaft. Der Teufel 
ist erfahrener, kennt mehr von dem Treiben unseres Planeten, 
hat mehr hinter die Kulissen der Frau Welt gesehen als unser 
Prahlhaus und Muttersöhnchen Astolphe de Rosemberg, an 
Ungeschicklichkeit steht der letztere ihm nicht viel nach. Der 
bedrohten Unschuld ersteht allerdings in Astolphe kein so ge- 
fährlicher Nebenbuhler wie Griselidis in Alain. Was die Hel- 
dinnen Barberine und Griselidis betrifft, so hat Barberine Gri- 
selidis nicht einmal in einzelnen Charakterzügen zum Vorbilde 
gedient. Die ernste, würdevolle, elegisch gestimmte Griselidis 
steht in keinem geringen Gegensatze zu der allzeit heiteren, 
listigen, praktisch veranlagten Barberine. 

Bertrade und Kalekairi, beide getreue und anhängliche 
Dienerinnen ihrer jugendlich schönen Herrinnen zeigen Gegen- 
sätzlichkeit in den ihnen zugeteilten Rollen wie in ihrem 
Charakter. 

Betrachtet man beide Stücke als Ganzes genommen und 
vergleicht sie mit einander, so muss man Jules Lemaitre Recht 
geben, wenn er in einer Rezension über Griselidis schreibt: „Ils 
l’ont en somme beaucoup rapproche&e de la Barberine de Musset.“ 


Das zweite Werk, dessen Einfluss auf den Höhepunkt der 
Handlung wenn nicht im Wortlaut, so doch in der Technik der 
angewandten Mittel unverkennbar ist, ist das von Alexander 
Dumas fils seiner Tochter Madame Collette Lippmann gewid- 
mete Werk ‚la Princesse de Bagdad‘, das die Worte des zweiten 
Akts, Szene I als Motto trägt: „Sois toujours une honnöäte 
femme; c’est le fond des choses!“ 

Die Handlung ist eher möglich als wahrscheinlich, das 
rätselhafte, fremdländischen Ursprung verratende Wesen Lionnette 
ist vor allem eher das Gegenteil einer Griselidis, Jean de Hun 
der von den schrecklichsten Qualen der Eifersucht Gefolterte 
ist so wenig ein Abbild des Marquis wie der erzreiche, von 
einer eisernen Gesundheit von Mutter Natur begnadete Nour- 
vady ein solches Alains ist, nicht zum letzten hat er durch 
seinen männlichen Charakter und gründlichen Verstand auf Lion- 
nette, die Frau Jean de Huns derartigen Eindruck gemacht, 


Griselidis in der französischen Literatur. 129 


dass sie durch das Hinzutreten unerquicklicher Verhältnisse den 
entscheidenden Schritt tun will Gatten und Kind zu verlassen; 
und eben dieses Kind Raoul hält seine Mutter von dem ver- 
hängnisvollen Schritt ab und erscheint zur rechten Zeit wie 
Loys in der Alainszene (vgl. la Princesse de Bagdad, Ill, 4). 

So verschieden auch die Charaktere von denen in der 
Silvestreschen Griselidis sind, so ist die Situation in beiden 
Stücken doch ähnlich. Griselidis wird durch das Erscheinen 
ihres Söhnchens allerdings sofort zur Besinnung gebracht, Lion- 
nette erst, als Nourvady ihren Raoul zu Boden schleudert; hier 
wie dort ist das rechtzeitige Erscheinen des Sohnes der dauer- 
hafte Schild für die stark gefährdete Ehre und Tugend der 
Heldin, an dem alle Angriffe zerschellen. 

Zum Schluss möchte ich noch auf einige Einzelheiten 
hinweisen. 

Bemerkenswert ist, dass gerade die heilige Agnes es ist, 
die in das Schicksal der Handlung bestimmend eingreift. Meiner 
Auffassung nach ist Silvestre durch das Lesen der Inhaltsangabe 
bei Le Petit de Julleville (l, 180—184) über Griselidis auf das 
provengalische Mystere de Sainte Agnes gekommen, weil dieses 
sofort nach der Histoire erwähnt wird (I, 185; II, 345). Als 
Schutzheilige für eine keusche und reine Frauenseele erscheint 
Agnes durch ihre eigenen Erlebnisse wie geschaffen. 

Im Faust von Gounod komponiert erinnert mich eine Stelle 
lebhaft an den Augenblick, in dem Griselidis das Schloss ver- 
lassen will, um im Schatten eines: Klosters im Gebet für ihren 
Herrn, den Vater ihres Kindes, ihre Tage zu beschliessen. 
(Silv. S. 44.) Vgl. hiemit folgende Verse in Faust, IV. Akt, Szene I: 

Ceux dont la main cruelle me repousse, 
N’ont pas ferm& pour moi la porte du saint lieu; 
Jy vais pour mon enfant ... et pour lui prier Dieu. 

Abschliessend können wir sagen, dass wörtliche Entlehn- 
ungen nirgends nachweisbar sind, und dass, wie die Quellenunter- 
suchung ergeben hat, Ostrowski noch vor Mussets Arbeit wohl den 
bedeutendsten Einiluss auf den Gang der Handlung in Armand 
Silvestres Griselidis ausgeübt hat, und Ostrowskis Werk wieder 
steht, wie ich nachgewiesen habe, in engem Abhängigkeitsverhält- 
nis zu der deutschen Dichtung Halms: also auch hier wieder 
ein erkennbarer und nachweisbarer Einfluss der deutschenLbiteratur 
auf die französische. 

9 


130 Richard Schuster. 


Anhang. 


Als eine wünschenswerte Ergänzung zur bisherigen Betrachtung 
erschien es mir, den Reim in der Griselidis zum Gegenstand einer ein- 
gehenden Untersuchung zu machen. Namentlich suchte ich durch Auf- 
stellung statistischen Materials, durch Vergleichung mit Edmond von 
Rostand und Theodor von Banville zu zeigen, wie die in der Griselidis 
angewendeten Reimtypen sich zu denen der beiden genannten Dichter 
verhalten. Zudem liegen wenige derartige Untersuehungen über moderne 
Dichter vor. Lubarsch sagt in seiner Verslehre über den Reim (S. 261): 

„Wir haben hier nur auf einige der hervorragendsten Punkte hin- 
weisen wollen, welche bei einer folgerichtigen Theorie des französischen 
Reimes massgebend sein müssen. Neben einem feinen Verständnis für 
den Klang französischer Laute ist überdies die Aufstellung einer Statistik 
des Reimes nach den besten Dichtern erforderlich, von welcher zur Zeit 
kaum die Anfänge vorliegen.“ 

Da Armand Silvestre gerade wegen seines Formtalents ein auch 
von den strengsten Kritikern in dieser Richtung vorbildlicher Dichter 
genannt wird, so ist die Aufstellung einer Statistik, wenn auch nur auf 
Griselidis beschränkt, sicherlich lohnend. 

Eine Schwierigkeit bei der Aufstellung der Reimskala lag darin, 
dass vielfach mehr als zwei Verse durch denselben Reim gebunden 
werden, und diese praktisch nur insofern der Skala einzufügen waren, als 
eben an den jeweiligen Stellen nur ein einziger Reim gerechnet wurde. 

Bei Aufstellung der Reimskala bin ich den Bezeichnungen von 
Schenk und Grein gefolgt. Terminologische Einheit in verstheoretischen 
Arbeiten ist dringend geboten, deshalb habe ich auch die von der Kritik 
nicht beanstandeten Schenkschen Bezeichnungen der einzelnen Laute 
beibehalten: 

v= Vokal; v = Nasalvokal; c = Konsonant; dd = diphtongue 
decroissante; de — diphtongue croissante; d = Nasaldiphtong. 

Das Ergebnis meiner Untersuchung ist, dass sich 14 Reimtypen’) 


!) Der jeweilige Reimtypus bildet immer auch die erste Gruppe. Tritt ein 
stummes e hinzu, oder reimen Nasalcokale oder Diphthonge an Stelle des einfachen 
Vokals aufeinander, so ergeben sieh die weiteren Gruppen jedes Reimtypus. Der 
Typus „Genügender Reim, einfacher Konsonant nach einem Vokal oder Diph- 
thongen“ ergibt z. B. in der Grriselidis die folgenden 5 Gruppen: 


v+c ıvH+c retour : amour 
v+c+te:v+c+te doute : worte 
vV+tcete:v+c+te etranges : fanyes 
d+c :d+c noir : esponr 


d+c+te:d+c-+e vote : etoile 


Griselidis in der französischen Literatur. 131 


ergeben, weiche 44 verschiedenen Gruppen angehören; in Anbetracht 
der 617 Reime ist diese Zahl ziemlich hoch. Wenn Schenk in seiner 
Arbeit über den Reim bei Edmond Rostand bei 2476 Versen und dem- 
gemäss 1238 Reimen 46 Reimtypen mit 73 Gruppen auistellt, so scheint 
auf den ersten Blick Armand Silvestre ein verstechnisch nicht gerade 
gewandter Dichter zu sein. Die bei ihm fehlenden Reimtypen sind jedoch 
auch bei Rostand äusserst selten, ihr Vorkommen beschränkt sich auf 
einen einzigen, allerhöchstens auf zwei Fälle. Mehr oder weniger sind 
dies eben Zufallsreime, die für die Beurteilung der Reimtechnik eines 
Dichters meines Erachtens kaum ins Gewicht fallen. 


Eine etwas eingehendere Untersuchung der verschiedenen Reim- 
typen wird in mannigfacher Hinsicht von Nutzen sein. 

Mit Assonanz wurde der genügende Reim bezeichnet, bei dem nur 
Gleichklang des Reimvokals zu konstatieren ist ohne nachfolgenden hör- 
baren Konsonanten. Gegenüber Schenks Aufstellung habe ich drei weitere 
Gruppen zu den Assonanzen hinzufügen können. Es wundert mich etwas. 
dass Rostand Gruppen wie de +e:de +e€ (proie : joie); v+ c:d-+c 
(ternel : ei) und v+c+te:d+ c+e (espere : entiere) nicht ver- 
wendet hat. In der Gruppe v : v ist das Reimwort Epoux sehr häufig 
vertreten. Wenn ich auch den Reim vermeille : pareille Schenk folgend 
unter die Assonanzen gerechnet habe, so habe ich dies nur getan, um 
bei ihrer prozentualen Berechnung dasselbe Material zur Verfügung zu 
haben und um einen fehlerfreien Vergleich anstellen zu können. 

11°/, aller Reime entfallen auf die Assonanzen, die klangärmsten 
mit 23 unter 69 stehen auch hier obenan, dann folgt gleich die Gruppe 
de : de mit 17, (roi : fai),d :d (aneien : bien) mit 6 Beispielen, die klang- 
reicheren sind nur mit 4, 3, 2 und einem Beispiel vertreten. (v:v lon : 
timoin (4), dd+e:dd + e vermeille : pareille (3), de e:de-+e proie : 
je 2, vtete:d+cHte espere : entiere (1). 

Die eigentlichen Reime, die ausser dem Reimvokal noch ein tönendes 
Element, sei es nun einen Konsonanten oder einen Vokal gemeinsam 
haben, betragen 89°;,. 

Die genügenden Reime machen etwas mehr als ein Viertel der 
sämtlichen Reime aus, nämlich 25'/,°/,. (26°, im Cyrano de Bergerac.) 
8 Fälle von 158 genügenden Reimen entfallen auf den Reim v+c+e 
v+ c+ e(doute : route) an zweiter Stelle stehen die männlichen Reime 
retour : omour (33 Beispiele) und dann kommen die andern wenig zahl- 
reich vertretenen Gruppen. 

Banville stellt in seinem Traite folgende kategorische Regel auf 
(p. 56/57): | 

Sarıs consonne d’appui pas de rime et, par consequent, pas de 
po&sie; la poesie consentirait plutöt ä perdre en route un de ses 
bras ou une de ses jambes qu’ä marcher sans la consonne d’appui. 


Er selbst hat aber diese Regel nicht praktisch durchgeführt, denn 
wir finden ungeachtet der genügenden Reime allein schon, wie Grein 
nachgewiesen hat, 7°/, Assonanzen in seinen Gedichten. 


132 Richard Schuster. 


Die wichtigsten Gruppen und Typen bei Arınand Silvestre will ich 
im folgenden in absoluter und relativer Beziehung aufführen und zum 
Vergleich die von Schenk bei Rostand und von Grein bei Banville ge- 
wonnenen Resultate mit heranziehen. 


Gruppe: Beispiele: Silvestre Banville Rostand 
c+v Griselidis : paradis 202 = 32,7°;, 27,8%, 24% 
v+c retour : amour 140 = 22,7"! 23,30 5 28 ° 
c+v-+c fleur : douleur 134: = 21,70, 21,4%, 10 ®/, 
V genoux : doux 69 = 11,1", 73% 12 °% 

88,20), 79,8°, 74 On 

Typus: 

v+c-+e doute : route 82 — 13,3°/, 14,3°/o 24 v, 
C+v-+ c + eernpresse :tendresse 87 = 14,1°;, 11,9%, 7,5%) 
c+v Griselidis : paradis 110 = 17,80, 11,3°/, 14 9%, 
c+V chemin : main 36 = 5,8"), 80, 6,1°)o 
c+v-+c fleur : douleur 3i= 5% 5,8%, 17°, 
v+c retour : amour 3 = 5,3%, 4,7%, 5 9, 
c+v-+e declaree : contree 48 = 7,80 4,1%, 1,8%, 


69,1 60,1, 60,1%, 


Diese Zahlen beweisen mehr als viele Worte wie bei Armand Sil- 
vestre der reiche Reim sowohl in der Reimgruppe als auch im Reimtypus 
an erster Stelle steht, er also dem Ideal von Banville und der franzö- 
sischen Theoretiker möglichst reich zu reimen am nächsten gekommen 
ist. Banville hat er insofern übertroffen, als 32,7%, reiche Reime bei 
Silvestre 27,8°/, bei Banville gegenüberstehen, und ferner überwiegt bei 
dem französischen Theoretiker bei den einzelnen Gruppen der genügende 
Reim den reichen Reim; an erster Stelle steht in unserer Griselidis der 
Lauttypus c + v mit 17,8°/, an zweiter der Lauttypus c-v+c-+ e mit 
14,1°/, und erst an dritter Stelle kommt der genügende Reim mit 13,3"/,. 

Wenn daher bei Silvestre nicht so viele Reimtypen wie bei Banville 
und Rostand vorhanden sind, so rührt das einesteils daher, dass der 
reiche Reim einen so grossen Prozentsatz einnimmt, und ferner daher, 
dass er die Typen mit mehreren hörbaren Konsonanten als schwerfällig 
und unschön betrachtet und sie deshalb im Reim vermeidet. 


Ich gehe nun über zu der lautlichen Beschaffenheit der Reime und 
behandle zunächst die Reimvokale. Nach Becq de Fouquiers (p. 29) 
ist die ‚identite du son de la voyelle‘ als ‚la premiere condition‘ zu be- 
trachten. Einige Verstösse gegen diese Regel finden sich. obwohl nur 
spärlich, bei unseren Dichtern. 

Die einzelnen Vokale behandle ich im nachstehenden gesondert. 

In unserem Mystere werden einige Male kurze a-Laute mit langen 
gereimt. Oft werden äme und flamme mit einem Wort auf kurzes a, 
femme mit einem solchen auf langes a gereimt. Alle französischen 
Theoretiker verwerfen diese Reime. Landais (p. XX) bemerkt dazu: 


Griselidis in der französischen Literatur. 133 


„A long, comme dans äge, se recontre dans presque tous nos 
poetes rimant avec a bref. Iis vont plus loin et font rimer femme 
avec äme, s’efforgant, malgre l’ail et l’oreille, d’accorder ensemble 
ces syllabes si disparates. Cela est ä Eviter.“ 


Drei mal, auf S. 20, 87 und 89 wird «me mit fenme gereimt; richtige 
Reime wie äme : flamme (95) sind natürlich die Regel. Weitere Verstösse 
sind folgende Reime: (54) madame : äme, (80) infüme : femme. Der Reim 
espace : passe (25) ist auch zu tadeln, da offenbar das a in espace kurz 
ist, das a in passe habe ich stets lang gehört, auch Banville und Landais 
bezeichnen es als lang, wohingegen Sachs nur halblanges a in passe 
verzeichnet. Ein weiterer offenkundiger Verstoss gegen Augen- und Ohr- 
reim ist der Reim läche : cache (83). 

Beim e-Laut sind auch wieder nur wenige Inkorrektheiten die 
Quantität betrefiend zu verzeichnen, die Qualilät bietet keinen Anlass zu 
Erörterungen. 

. Nach Sachs ist elles halblang, fideles lang. Nun ist ja zuzugeben, 
dass eine genaue Grenze zwischen halblang und lang nie aufzustellen 
sein wird, elle habe ich aber in Frankreich und Beigien sehr oft, nament- 
lich im emphatischen Ausruf lang, ja beinahe überlang gehört. Deshalb 
möchte ich Reime wie fidele : d’elle (57) und devant elle : telle nie be- 
anstanden. 

Einen Verstoss können wir in den Reimen complete : toilette : replöte 
feststellen, das e in toilette ist eher kurz als halblang, das e der beiden 
andern Reimwörter dagegen lang. Der Reim chandelle : infidele (18) ist 
auch inkorrekt, ebenso gırette : honnete (31). 

Die andern Reimvokale i, ö und u bieten keinen Anlass zu Erörter- 
ungen, es sei denn der Vocal o in dem Beispiel vötre : autre (hl.) 

Als wichtiges Ergebnis der behandelten Fälle ist festzustellen, dass 
unsere Dichter die von den Theoretikern aufgestellten Regeln beinahe 
durchgehends befolgen. 


Ich habe nun noch einen gelinden Irrtum von Catulle Mendes zu 
berichtigen, hinsichtlich der von ihm in seinem „Rapport sur le Mouvement 
poetique frangais* ausgesprochenen Auffassung über Silvestres Reim- 
technik. Mend®s schreibt: 


„Parce qu’ Armand Silvestre, selon la bonne et irresistible loi 
qui pousse les uns vers les autres les honnetes esprits, fut un Par- 
nassien, la mode s’est etablie de penser que l’auteur de la Gloire 
du Souvenir et de Tristan de L&onois est un tres precieux et tres 
raffine versificateur, uniquement pr&eoccup& de la rime et des trou- 
vailles pittoresques de rythmes et d’images. Or, il n’en est rien; 
et c’est le contraire qui est la verit€e m&me: Armand Silvestre 
s’inquiete assez peu de la rime, ne cherche pas l’image neuve (qu’il 
trouve souvent sans le faire expres, l’heureux homme!) et n’est pas 
plus malin, en fait de combinaisons rytlımiques, qu’un jeune joueur 
de chalumeau. Mais il est le po&te Iyrique, mais il a en lui le don 
Iyrique. Et c’est pourquoi notre maitre commun, venere et bien 
aime, et toujours vivant en nos ämes, Theodore de Banville, pour 


134 Richard Schuster. 


qui le seul Iyrisme &tait la po&sie mäme, toute la po&@sie, me dit un 
jour que, de tous ses disciples, celui qui €tait le plus proche du 
caur de son esprit, c’etait Armand Silvestre.* 


Das meiste, was hier gesagt wird, unterschreibe ich gern, nur nicht 
die Schlussfolgerung von Catulle Mendes. Gerade meine Untersuchung 
hat gezeigt, dass Armand Silvestre sich sehr mit dem Reim beschäftigt: 
was die lautliche Beschaffenheit der Reimvokale anbetrifft, so waren 
wenige Bemerkungen zu machen. Andererseits ist es ja das Bestreben 
der französischen Dichter, möglichst reich zu reimen, und ich glaube 
zahlenmässig nachgewiesen zu haben, dass Armand Silvestre, wenigstens 
was die Griselidis anlangt, seinen einstigen Lehrer Banville, den strengen 
Theoretiker, in der Erfüllung dieser Forderung noch übertrifit. Daher ist 
die Behauptung von .Catulle Mendes — so gut sie auch gemeint sein 
mag — Silvestre kümmere sich wenig um den Reim, in Bezug auf unser 
Mystere rundweg abzulehnen. 


Griselidis in der französischen Literatur. 135 


Francisci Petrarchae opera, Basileae (1555). 


Francisci Petrarchae V. G. de obedientia ac fide uxoria Mythologia. 


Est ad Italiae latus occiduum Vesulus ex Appennini iugis mons unus 
altissimus, qui vertice nubila superans liquida sese ingerit aetheri, mons 
suapte nobilis natura, sed Padi ortu nobilissimus, qui eius a latere fonte 
lapsus, exiguo orientem contra solem fertur, mirisque mox tumidus in- 
crementis, breui spacio decursu, non tantum maximorum unus amnium, 
sed fluuiorum & Vergilio rex dictus. Liguriam gurgite uiolentus intersecat, 
dehinc Aemiliam, atque Flaminiam, Venetiamque discriminans, multis ad 
ultimum et ingentibus ostijs, in Adriaticum mare descendit. Caeterum 
pars illa terrarum, de qua primum dixi, que et grata planitie, et interiectis 
collibus ac montibus circumflexis, aprica pariter ac iucunda est, atque 
ab eorum quibus subiacet Pedemontium pede nomen tenet, et ciuitates 
aliquot et oppida habet egregia. Inter caetera ad radicem Vesuli, terra 
Salutiarum, uicis et castellis satis frequens, Marchionum arbitrio nobilium 
quorundam regitur uirorum, quorum unus primusque omnium et maximus 
fuisse traditur Gualtherus quidam, ad quem familiae ac terrarum omnium 
regimen pertineret, et hic quidem forma uirens atque aetate, nec minus 
moribus quam sanguine nobilis, et ad summam omnium ex parte uir 
insignis, nisi quod praesenti sua sorte contentus incuriosissimus futuro- 
rum erat. Itaque uenatui aucupioque deditus, sic illis incubuerat, ut alia 
pene cuncta negligeret: quodque in primis aegre populi ferebant, ab 
ipsis quoque coniugij consilijs abhorreret. Id aliquamdiu taciti cum 
tulissent, tandem cateruatim illum adeunt, quorum unus, cui uel aucto- 
ritas maior erat uel facundia, maiorque cum suo duce familiaritas, „Tua, 
‚inquit‘, humanitas, optime Marchio, hanc nobis praestat audaciam, ut et 
tecum singuli quotiens res exposcit deuota fiducia colloquamur, et nunc 
omnium tacitas uoluntates mea uox tuis auribus inuehat, non quod sin- 
gulare aliquid habeam ad hanc rem, nisi quod tu me inter alios charum 
tibi multis indicijs comprobasti. Cum merito igitur tua nobis omnia 
placeant, semperque placuerint, ut felices nos tali domino judicemus: 
unum est, quod si a te impetrari sinis teque nobis exorabilem praebes, 
plane foelicissimi finitimorum omnium futuri sumus, ut coniugio scilicet 
animum applices, collumque non liberum modo sed imperiosum legitimo 
subijcias iugo, idque quam primum facias: uolant enim dies rapidi, et 
quamquam florida sis aetate, continue tamen hunc florem tacita senectus 


136 Richard Schuster. 


insequitur, morsque ipsa omni proxima est aetati. Nulli muneris huius 
immunitas datur, aeque omnibus moriendum est, utque id certum, sic 
illud ambiguum, quando eueniat. Suscipe igitur, oramus, eorum preces, 
qui nullum tuum imperium recusarent, quaerendae autem coniugis studium 
nobis linque; talem enim tibi procurabimus, quae te merito digna sit, 
et tam claris orta parentibus, ut de ea spes optima sit habenda, libera 
tuos omnes molesta sollicitudine quaesumus, ne si quid humanitus tibi 
forsan accideret, ut tu sine tuo successore abeas, ipsi sine notiuo rectore 
remaneant.* Mouerunt piae preces animum Viri, et „cogitis“, inquit, me, 
amici ad id quod mihi in animum nunquam uenit; delectabar omnimoda 
libertate, quae in coniugio rara est. Caeterum subiectorum mihi uolun- 
tatibus me sponte subijceio, et prudentiae uestrae fisus et fidei: Illam 
uero quam offertis quaerendae curam coniugis, remitto, eamque humeris 
meis ipse subeo; quid unius enim claritas confert alteri? Saepe filij 
dissimillimi sunt parentum. Quicquid in homine boni est, non ab alio, 
quam a Deo est. Illi ergo et status et matrimonij mei sortes, sperans 
de sua solita pietate, commiserim; ipse mihi inueniet, quod quieti meae 
sit expediens ac saluti. Itaque quando vobis ita placitum est, uxorem 
ducam, id uobis bona fide polliceor, uestrumque desiderium nec frustrabor 
equidem, nec morabor: unum uos mihi versa uice promittite ac seruate, 
ut quamcunque coniugem ipse delegero, eam uos summo honore ac 
ueneratione prosequamini, nec sit ullus inter uos, qui de meo unquam 
iuditio aut litiget aut queratur. Vestrum fuit me omnium quos nouistis 
liberrimum, iugo subiecisse coniugij; mea sit iugi ipsius electio, quae- 
qumque uxor mea erit, illa, ceu Romani principis filia, domina uestra 
sit.“ Promittunt unanimiter, ac laete nihil defuturum, ut quibus uix pos- 
sibile videretur optatum diem cernere nuptiarum, de quibus in diem certum 
magnilicentissime reparandum domini iubentis edictum alacres susciperent. 
Ita a colloquio discessum est, et ipse nihilo minus eam ipsam nuptiarum 
curam domesticis suis imposuit, edixitque diem. 

Fuit haud procul a palatio uillula paucorum atque inopum incola- 
rum, quorum uni omnium pauperrimo Janicolae nomen erat, sed ut pau- 
perum quoque tuguria nonnumquam gratia ceelestis inuisit, unica illi 
contigerat Briseldis nomine, forma corporis satis egregia, sed pulchritudine 
morum atque animi adeo speciosa, ut nihil supra, haec parco uictu, in 
summa semper inopia educata, omnis inscia uoluptatis, nil molle, nil 
tenerum cogitare didicerat, sed uirilis senilisque animus uirgineo latebat 
in pectore, patris senium inextimabili refouens charitate,; et panculas eius 
:oues pascebat, et colo interim digitos atterebat, uicissimque domum 
rediens, oluscula et dapes fortunae congruas praeparabat, durumque cu- 
biculum sternebat, et ad summum angusto in spatio totum filialis obe- 
dientiae ac pietatis officium explicabar. In hanc uirgunculam Gualtherus 
saepe illac transiens, quandoque oculos non iuuenili lasciuia sed senili 
grauitate defixerat, et uirtutem eximiam supra sexum supraque aetatem, 
quam uulgi oculis conditionis obscuritas abscondebat, acri penetrarat 
intuitu. Unde effectum, ut et uxorem habere, quod unquam ante uol- 
uerat, et simul hanc unam nullamque aliam habere disponeret. Instabat 
nuptiarum dies, unde autem uentura sponsa esset, nemo nouerat, nemo 


Griselidis in der französischen Literatur. 137 


non mirabatur; ipse interim et anulos aureos et coronas et balteos con- 
quirebat, uestes autem pretiosas et calceos et eius generis necessaria 
omnia, ad mensuram puellae alterius, quae statura suae persimilis erat, 
praeparari faciebat. Venerat expectatus dies, et cum nullus sponsae 
rumor audiretur, admiratio omnium uehementer excreuerat, hora iam 
prandij aderat, iamque apparatu ingenti domus tota feruebat. Tum Gual. 
therus aduentanti uelut. sponsae obuiam profecturus domo egreditur, pro- 
sequente uirorum et matronarum nobilium caterua.. Griseldis omnium 
quae erga se pararentur ignara, peractis quae agenda domi erant, aquam 
e longinquo fonte connectans, paternum limen intrabat, ut expedita curis 
alijs, ad uisendam Domini sui sponsam cum puellis comitibus properaret. 
Tum Gualtherus cogitabundus incedens, eamque compellans nomine: 
‚Ubinam pater eius esset‘, interrogavit; quae cum illum domi esse reuerenter 
atque humiliter respondisset, „Jube, inquit, ad me ueniat“, venientem seni- 
culum, manu praehensum parumper abstraxit, ac submissa uoce, „Scio, 
ait, me Janicola carum tibi, teque hominem fidum noui, et quaecunque 
mihi placeant, uelle te arbitror; unum tamen nominatim nosse. uelim: an 
me quem dominum habes, data mihi hac tua in uxorem filia generum 
uelis?“ Inopino negotio stupefactus senex obriguit, et uix tandem paucis 
hiscens, „Nil, inquit, aut velle debeo aut nolle, nisi quod placitum tibi sit, 
qui dominus meus.es.“ „Ingrediamur soli ergo, inquit, ut ipsam de qui- 
busdam interrogem, te praesente.“ Ingressi igitur, expectante populo ac 
mirante, puellam circa patris obsequium satagentem, et insolito tanti 
hospitis aduentu stupidam inuenere, quam ijs uerbis Gualtherus aggre- 
ditur: „Et patri tuo placet, inquit, et mihi, ut uxor mea sis. Credo id 
ipsum tibi placeat, sed habeo ex te quaerere, ubi hoc peractum fuerit, 
quod mox erit, an uolenti animo parata sis, ut de omnibus tecum mihi 
conueniat, ita ut in nulla unquam re a mea uoluntate dissentias, et quic- 
quid tecum agere uoluero, sine ulla frontis aut uerbi repugnantia te ex 
animo uolente mihi liceat.*“ Ad haec illa miraculo rei tremens, „Ego mi 
domine, inquit, tanto honore me indignam scio: at si uoluntas tua, sique 
sors mea est, nil ego unquam sciens, nedum faciam, sed etiam cogi- 
tabo, quod contra animum tuum' sit, nec tu aliquid facies, et si me 
mori iusseris, quod moleste feram,“ „Satis est,“ inquit ille; sic in publi- 
cum eductam populo ostendens: „Haec, ait, uxor mea, haec domina nostra 
est, hanc colite, hanc amate, .et si me carum habetis, hanc carissimam 
habetote.*“ Dehinc, ne quid reliquiarum fortunae ueteris nouam inferret 
in domum, nudari eam ivssit, et a calce ad uerticem nouis uestibus indui, 
quod a matronis circumstantibus ac certatim sinu illam gremioque fouen- 
tibus uerecundae ac celeriter ad impletum est. Sic horridulam uirginem, 
indutam, laceramque comam recollectam manibus comptamque pro tem- 
pore insignitam gemmis, et corona uelut subito transformatam, uix populus 
recognouit; quam Gualtherus anulo pretioso, quem ad hunc usum detu- 
lerat, solenniter desponsauit, niveoque equo impositam, ad palatium 
deduei fecit, comitante populo et gaudente.e Ad hunc modum nuptiae 
celebratae, diesque ille laetissimus actus est. Breui dehinc inopi sponsae 
tantum diuini fauoris affulserat, ut non in casa illa pastoria, sed in aula 
imperatoria educata atque edocta uideretur, atque apud omnes supra fidem 


138 Richard Schuster. 


cara et uenerabilis facta esset, uixque his ipsis, qui illam ab origine 
nouerant, persuaderi posset Janicolae natam esse; tantus erat ujitae, 
tantus morum decor, ea uerborum gravitas ac dulcedo, quibus omnium 
animos nexu sibi magni amoris astrinxerat. Jamque non solum intra 
patrios fines, sed per finitimas quasque prouincias suum: nomen celebri 
praeconio fama uulgabat: ita ut multi ad illam uisendam uiri ac matronae 
studio feruente concurrerent. Sic Gualtherus humili quidem sed insigni 
ac prospero matrimonio, honestatis summa domi in pace, extra uero 
summa cum gratia hominum uiuebat, quodque eximiam uirtutem, tanta 
sub inopia latitantem, tam perspicaciter deprehendisset, uulgo prudentis- 
simus habebatur. Neque uero solers sponsa muliebria tantum haec 
domestica, sed ubi res posceret, publica etiam obibat officia uiro absente, 
lites patriae nobiliumquae discordias dirimens atque componens tam 
grauibus responsis tantaque maturitate et, iudicij aequitate, ut omnes 
ad salutem publicam demissam coelo foeminam praedicarent. Neque 
multum tempus effluxerat, dum grauida affecta, primum subditos anxia 
expectatione suspendit, dehinc filiam enixa pulcherrimam, quamuis filium 
maluissent, tamen notliua foecunditate non virum modo sed totam patriam 
laetam fecit. Cepit, ut fit, interim Gualtherum cum iam ablactata esset 
infantula, mirabilis quaedam, quaın laudibilis doctiores iudicent, cupiditas 
satis expertam carae fidem coniugis experiendi altius et iterum atque 
iterum retentandi. Solam igitur in thalamum seuocatam, turbida fronte 
sic alloquitur: „Nosti, ö Briseldis, neque enim praesenti fortuna te prae- 
teriti tui status oblitam credo: nosti, inquam, qualiter in hanc domum 
ueneris. Mihi quidem cara satis ac dilecta es; at meis nobilibus non 
ita, praesertim ex quo parere incepisti, qui plebeiae Dominae subesse 
animis ferunt iniquissimis. : Mihi ergo, qui cum eis pacem Cupio, necesse 
est de filia tua non meo sed alieno iuditio obsequi, et id facere, quo nil 
mihi posset esse molestius. Id enim uero te ignara nunquam fecerim, 
uolo autem tuum mihi animum accomodes, patientiamque illam praestes, 
quam ab initio nostri coniugij promisisti.* Jis auditis, nec uerbo mota, 
nec uultu. „Tu, inquit, noster es Dominus, et ego, et haec parua filia 
tuae sumus; de rebus tuis igitur fac ut libet, nil placere enim tibi potest., 
quod mihi displiceat. Nil penitus uel habere cupio uel amittere metuo, 
nisi te, hoc ipso mihi in medio cordis aflixi, nunquam inde.uel lapsu 
temporis uel morte uellendum. Omnia prius fieri' possunt, quam hic 
animus mutari.“ Laetus ille responso, sed dissimullans uisu moestus 
abscessit, et post paululum unum suorum satellitum fidissimum sibi, 
cuius opera grauioribus in negocijs uti consueuerat, quid agi uellet 
edoctum, ad uxorem misit,. qui ad eam noctu ueniens, „Parce, inquit, o 
domina, neque mihi imputes, quae coactus faecio. Scis sapientissima, 
quid est esse sub dominis, neque tali ingenio praeditae quamuis inex- 
pertae dura parendi necessitas est ignota: iussus sum hanc infantulam 
accipere;“ atque eam hic sermone abrupto, quasi crudele ministerium 
silentio exprimens subicuit. -Suspecta uiri fama, suspecta facies, suspecta 
hora, suspecta erat oratio, quibus etsi clare occisum iri dulcem filiam intel- 
ligeret, nec lacrymulam tamen ullam nec suspirium, dedit, in nutrice quidem, 
nedum in matre durissimum. Sed tranquilla fronte puellulam accipiens, 


Griselidis in der französischen Literatur. | | 139 


aliquantulum respexit, et simul exosculans, benedixit, ac signum sanctae 
erucis impressit, prorexitque satelliti: „vade, ait, quodque tibi Dominus 
noster iniunxit exequere. Unum quaeso, cura ne corpusculum hoc ferae 
lacerent, aut uolucres, ita tamen, nisi tibi contrarium sit praeceptum.“ 
Reuersus ad Dominum, cum quid dietum, quidue responsum esset exposuis- 
set, et ei filiam obtulisset, uehementer paterna animum pietas mouit;suscep- 
tum tamenrigorem propositi non inflexit, iussitque aatellitiobuolutam pannis, 
<istae iniectam, ac jiumento impositam, quiete omni quanta posset diligentia 
Bononiam deierret, ad sororem suam, quae illic Comiti de panico nupta 
erat, eamque sibi traderet alendam materno studio, et caris moribus 
instruendam, tanta praeterea occultandam cura, ut cuius filia esset, a 
nemine posset agnosci- Fuit ille illico, et sollicite quod impositum ei 
erat impleuit. Gualtherus interea, saepe uultum coniugis ac uerba con- 
siderans, nullum unguam mutati animi perpendit indicium, par alacritas 
atque sedulitas, solitum obsequium, idem amor, nulla Iristitia, nulla filiae 
mentio, nunquam siue ex proposito siue incidenter nomen eius ex ore 
matris auditum. Transiuerant hoc in statu anni quatuor, dum ecce grauida 
iterum filium elegantissimum peperit, laetitiam patris ingentem atque 
omnium amicorum. Quo nutrici ab urbe post biennium subducto, ad 
curiositatem solitam reuersus pater, uxorem rursus affatur: „et olim, ait, 
audisti populum meum aegre nostrum ferre connubium, praesertim ex 
qup te foecundam cognouere. Nunquam tamen egregius, quam ex quo 
marem peperisti, dicunt enim et saepe ad aures meas murmur hoc 
peruenit, obeunte igitur altero, Janiculo nepos nostri dominabitur, et tam 
nobilis patria tali domino subiacebit. Multa quotidie in hanc sententiam 
iactantur in popnlis; quibus ego et quietis auidus, et ut uerum fatear 
mihi metuens permoueor, ut de hoc 'infante disponam, quod de sorore 
disposui. Id tibi praenuncio ne te inopinus et subitus dolor turbet.“ 
Ad haec illa: „dixi, ait, et repeto, nihil possum seu uelle, seu nolle nisi 
quae tu, neque uero in eijs filijs quicquam habeo praeter laborem; tu 
mei, et ipsorum dominus, tuis in rebus uire tuo utere nec consensum 
meum quaeras, in ipso enim tnae domus introitu ut pannos, sic et uolun- 
tates affectusque meos exui; tuis indui, quaeunque ergo de re quicquid 
tu uis, ego etiam uolo: nempe quae si futurae tuae uoluntatis essem 
praescia, ante etiam quicquid id esset, et uelle, et cupere. inciperem, 
quam tu uelles; nunc animum tuum, quem praeuenire non possum, libens 
sequor: fac sententiam tibi placere quod moriar, uolens moriar, nec res 
ulla denique nec mors ipsa nostro fuerit par amori.“ Admirans foeminae 
constantiam, turbato multu abijt, confestimque satellitem olim missum ad 
eam remisit, qui multum excusafa necessitate parendi, multumque petita 
uenia, siquid ei molestum aut fecisset aut faceret, quasi immane scelus 
acturus poposcit iniantem. Illa eodem quo semper: uultu, qualicunque 
animo filium forma corporis atque indole non matri tantum sed cunctis 
amabilem in manus cepit, signansque eum signo crucis, et benedicens 
ut fiiam fecerat, et diuticule oculis inhaerens, atque deosculans, nullo 
penitus signo doloris edito, petenti obtulit. „Et tene, inquit, fac quid 
jussus es, unum nunc etiam precor, ut si fieri potest, hos .artus teneros 
infantis egregij protegas a uexatione uolucrum ac ferarum.“ Cum ijs 


140 Richard Schuster. 


mandatis reuersus ad Dominum, animum eius magis in stuporem egit, 
ut nisi eam nosset amantissimam filiorum, paulominus suspicari posset, 
hoc femineum robur quadam ab animi feritate procedere, sed cum 
suorum omnium ualde, nullus erat amantior quam uiri. Jussus inde 
Bonomiam proficisci, et illum tulit, quo sororem tulerat. Poterant rigi- 
dissimo coniugi haec beneolentiae et fidei coniugalis experimenta suf- 
ficere: sed sunt, qui ubi semel inceperint non desinant, imo incumbant, 
haereantque proposito. Defixis ergo in uxorem oculis, an ulla eius 
mutatio erga se fieret contemplabatur assidue, nec ullam penitus inuenire 
poterat, nisi quod fidelior illi indies atque obsequentior fiebat, sic ut 
duorum non: nisi unus animus uideretur, isque non communis amborum, 
sed uiri duntaxat unius, uxor enim per se nihil, uel uelle, ut dictum est, 
nihil nolle firmauerat. : Coeperat sensim de Gualthero decolor fama creb- 
rescere, quod uidelicet effera et inhumana duritie, humilis panitentia ac 
pudore coniugii filios iussisset interfici, nam neque pueri comparebant, 
neque ubinam gentium essent ullus audierat; quo se ille uir alioquin 
clarus et suis carus multis infamem odiosumque reddiderat. Neque ideo 
trux animus flectebatur, sed in suspecta severitate experiendique sua 
dura illa libidine procedebat. Itaque cum iam ab ortu filiae duodecimus- 
annus elapsus esset, nuncius Romam misit, qui simulatas inde literas 
apostolicas referrent. Quibus in populo uulgaretur, datam sibi licentiam 
a Romano Pontifice, ut pro sua et suarum gentium quiete, primo matri- 
monio rejecto, aliam ducere posset uxorem: nec operosum sane fuit. 
alpestribus rudibusque animis quidlibet persuadere. Quae fama cum ad 
Griseldis notitiam peruenisset, tristis ut puto, sed ut quae semel de se 
suisque de sortibus statuisset, inconcussa constitit, expectans quid de se 
ille decerneret, cui se et sua cuncta subiecerat. Miserat iam ille Bono- 
niam cognatum que rogauerat, ut ad se filios suos adduceret, fama undique 
diffusa uirginem illam sibi in coniugium adduci. Quod ille.fideliter exe- 
cuturus, puellam iam nubilem, excellentem forma praeclaroque conspi- 
cuam ornatu, germanumque suum simul annum iam septimum agentem 
ducens cum eximia nobilium comitiua, statuto die iter arripuit. Haec 
inter Gualtherus solito, ut uxorem retentaret, in genio, doloris ac pudoris 
ad cumulum, in publicum adductae .coram multis, „Satis, inquit, tuo 
coniugio delectabar, mores tuos non origine respiciens: nunc quoniam, 
ut video, magna omnis fortuna seruitus magna est, non mibhi licet, quod 
cuilibet liceret agricolae. Cogunt mei, et Papa consentit, uxorem me 
alteram habere, iamque uxor in via est statimque aderit. Esto igitur 
forti animo, dansque locum alteri, et dotem tuam referens, in antiquam. 
domum aequa mente reuertere. Nulla homini perpetua sors est.“ Contra 
illa, „Ego, inquit, mi domine, semper sciui, inter magnitudinem tuam et 
humilitatem meam nullam esse proportionem, meque nunquam ftuo, non 
dicam coniugio, sed servitio dignam duxi, inque hac domo, in qua tu 
me dominam fecisti, Deum testor, animo semper ancilla permansi. De 
hoc igitur tempore, quo tecum multo cum .honore longe. supra omne 
meritum meum fui, Deo et tibi gratias ago; de reliquo, parata sum bono 
pacatoque animo paternam domum repetere, 'atque ubi pueritiam egi, 
senectutem agere et mori, felix semper atque honorabilis uidua quae 


Griselidis in der französischen Literatur. 141 


uiris talis uxor fuerim. Nouae coniugi uolens cado, quae tibi utinam 
felix adueniat, atque hinc ubi iucundissime degebam quando ita tibi 
placitum est, non inuita discedam: at quid iubes dotem meam mecum 
ut auferam, quale sit uideo, neque enim excedit, ut paternae olim domus 
in limine spoliata meis, tuis induta uestibus ad te ueni, neque omnino 
alia mihi dos fuit, quam fides et nuditas. Ecce igitur ut hanc uestem 
exuo, anulumque restituo, quo me subarasti, reliqui anuli et uestes et 
ornamenta quibus de donante ad inuidiam aucta eram, in thalamo tuo 
sunt: nuda e domo patris egressa, nuda itidem reuertar, nisi quod indig- 
num reor, ut hic uterus, in quo filij fuerunt quos tu genuisti, populo 
nudus appareat. Quam ob rem si tibi placet, et non aliter, oro atque 
obsecro, ut in precium uirginitatis, quam huc attuli, gquamque non refero, 
unicam mihi camisiam linqui iubeas earum quibus tecum uti soleo, qua 
uentrem tuae quondam uxoris operiam.*“ Abundabant uiro lachrymae, 
ut contineri amplius iam non posset, itaque faciem auertens, et „cami- 
siam tibi unicam habeto“, uerbis trementibus uix expressit. Et sic abijt 
illachrymans; illa coram cunctis sese exuens, solam sibi retinuit camisiam, 
qua contecta, nudo capite, pedibusque nudis, coram cunctis egreditur. 
atque ita prosequentibus multis ac flentibus fortunamque culpantibus, 
siccis una oculis, et honesto ueneranda silentio, ad paternam domum 
remeauit. Senex qui has filiae nuptias semper suspectas habuerat, neque 
unquam tantem spem mente ceperat, semperque hoc euenturum cogi- 
tauerat, ut satietate sponsae tam humilie exorta, domo illam quandoque 
uir tantus et more nobilium superbus abijceret, tunicam eius hispidam, 
et attridam senio, abditam paruae domus in parte seruauerat. Audito ergo 
non tam filiae tacitae redeuntis quam comitum strepitu occurrit in limine, 
et seminudam antiqua ueste cooperuit. Mansit illa cum patre paucos dies, 
aequanimitate atque humanitate mirabili, ita ut nullum in ea signum animi 
tristioris, nullum vestigium fortunae prosperioris extaret, quippe cum in 
medijs opibus inops semper spiritu vixisset atque humilis. Jam Panicius 
comes propinquabat, et de nouis nuptijs fama undique frequens erat, 
praemissoque uno ex suis, diem quo Salutias peruenturus esset acceperat. 
Pridie igitur Gualtherus ad se Griseldam euocans, deuotissime uenienti: 
„Cupio, ait, ut puella cras huc ad prandium uentura magnifice excipiatur, 
uirique et matronae qui secum sunt, simulque et nostri, qui conuiuio 
intererunt, ita ut locorum, verborumque honor integer, singulis pro dig- 
nitate servetur; domi tamen feminas ad hoc opus idoneas non habeo, 
proinde tu, quamius ueste inopi, hanc tibi quae mores meos nosti, optime 
suscipiendorum locandorumque hospitum curam sumes.* „Non libenter 
modo, inquit illa, sed cupide, et haec et quaecunque tibi placita sensero 
faciam semper, neque in hoc unquam fatigabor, aut lentescam dum spiritus 
huius reliquiae uelle supererunt;* et cum dicto, seruilia mox instrumenta 
corripiens, domum uerrere, mensas instruere, lectos sternere, hortarique 
alias caperat, ancillae in modum fidelissimae. Proximae lucis hora 
tertia, Comes superuenerat, certatimque omnes et puellae et germani 
infantis mores ac pulchritudinem mirabantur. Erantque qui dicerent 
prudenter Gualtherum ac fcliciter permutasse, quod et sponsa haec tene- - 
rior esset, et nobilior, et cognatus tam speciosus accedered. Sic feruente 


142 Richard Schuster. 


conuiuij apparatu, ubique praesens omniumque sollicita Griseldis, nec 
tanto casu deiecto animo nec obsoletae uestis pudore confusa. sed sereno 
uultu intranti obvia puellae, flexo poplite seruilem in modum, uultuque 
demisso reuerenter atque humiliter, „Bene uenerit domina mea,“ inquit. 
Dehinc caeteros dum conuivas laeta facie et uerborum mira suauitate 
susciperet, et immensam domum multa arte disponeret, ita ut omnes et 
praesertim aduenae unde ea maiestas morum atque ea prudentia sub 
tali habitu, uehementissime mirarentur, atque ipsa in primis puellae 
pariter atque infantis laudibus satiari nullo modo posset, sed uicissim 
modo virgineam, modo infantilem elegantiam praedicaret. Gualtherus 
eo ipso in tempore, quo assidendum mensis erat, in eam uersus, clara 
uoce coram omnibus, quasi illudens, „Quid tibi uidetur, inquit, Griselidis 
de hac mea sponsa? Satis pulchra atque honesta est?* „Plane, ait 
illa, nec pulchrior ulla nec honestior inveniri potest, aut cum nulla un- 
quam, aut cum hac tranquillam agere poteris, ac felicem uitam; utque ita 
sit cupio, et spero: unum bona fide te precor ac moneo, ne hanc illis aculeis 
agites, quibus alteram agitasti. Nam quod et iunior et delicatius enutrita 
est, pati quantum ego auguror non ualeret.* Talia dicentis alacritatem. 
intuens, atque constantiam totiens tamque acriter offensae mulieris exami- 
nans, et indignam sortem non sic meritae miseratus, ac ferre diutius non 
ualens, „Satis, inquit, mea Griseldis, cogitata et spectata mihi fides est tua, 
nec sub ca&lo aliquem esse puto, qui tanta coniugalis amoris experimenta 
perceperit.“ Simul haec dicens, caram coniugem laeto stupore perfusam et 
uelut e somno turbido experrectam, cupidis ulnis amplectitur, „et tu, ait, sola 
uxor mea es, aliam nec habui, nec habebeo; istam autem quam tu sponsam 
meam reris, Silia tua est: hic qui cognatus meus credebatur, tuus est filius; 
quae diuisim perdita uidebantur, simul omnia recepisti. Sciant qui contra- 
rium credidere me curiosum atque experientem esse, non impium, probasse 
coniugem, non damnasse, occultasse filios, non mactasse.“ Haec illa audiens 
pene gaudio exanimis et pietate amens iucundissimisque cum lacrymis, 
suorum pignorum in amplexus ruit, fatigatque osculis, pioque gemitu made- 
facit;raptimque, plaususque laetisimus et fausta omnium uerba circumsonant, 
multoque cum gaudio et fletu ille dies celeberrimus fuit, celebrior quoque 
quam dies fuerat nuptiarum. Multosque post per annos ingenti pace concor- 
diaque uixere, et Gualtherus inopem socerum, quem hactenus neglexisse 
uisus erat, ne quando conceptae animo obstaret experientiae, suam in domum 
translatum in honore habuit, filiam suam magnificis atque honestis nuptijs col- 
locauit filiumque sui domini successorem liquit, et coniugio laetus.et sobole. 

Hanc historiam stylo nunc alio retexere uisum fuit, non tam ideo, ut 
matronasnostritemporisad imitandam huius uxoris patientiam, quaemihi uix 
imitabilis uidetur, quam ut legentes ad imitandam saltem faminae constan- 
tiam excitarem, ut quod haec uiro suo praestitit, hoc praestare Deo nostro 
audeant, qui licet (ut Jacobus ait Apostolus) intentator sit malorum, et ipse 
neminemtentet. Probat tamen etsaepe nos, multis ac grauibus flagellis, exer- 
ceri sinit,non ut animum nostrum sciat, quem scivit antequam crearemur, sed 
ut nobis nostra fragilitas notis ac domesticis indicijs innotescat; abunde ergo 
constantibus uiris asscripserim, quisquis is fuerit, qui pro Deo. suo sine 
murmure patiatur, quod pro suo mortali coniuge rusticana haec muliercula 
passa est. | ' 


Griselidis in der französischen Literatur. 143 


Bibliographie. 


Ausgaben. 


Boccaccio: Decameron volume quarto, Milano 1803. 

Dumanoir et Mazilier: Les cing Sens, Ballet-Pantomime en 3 actes 
et 5 tableaux (1848). 

Fr. Halm: Griseldis, Dramatisches Gedicht in 5 Akten. Wien 1837. 

B. Imbert: Griselde, 1795. 

J. Kalbfleisch: Le Triumphe des Dames des Olivier de la Marche. 
Diss. Basel 1901. 

Jacques Loyseau: Les fabliaux du moyen-äge colliges, Paris 1848, 
p. 48—65: ‚Griselidis‘. 

Chr. Ostrowski: Theätre complet P. 1852, darin: Griselde ou la fille 
du peuple. 

Francesco Petrarca: De obedientia et fide uxoria mythologia, Basel 
1554. Exemplar vorhanden auf der Pariser Nationalbibliothek 
unier der Signatur Z 273. 

Charles Perrault: Griseldis, nouvelle (1691), enthalten in: Les contes 
de Perrault, d’apres les textes originaux. Paris 1880. 

Le Nouveau theätre italien. 3. Bd. Paris 1719, darin: Griselde von Riccoboni, 
dit Lellio. 

A. Silvestre et Eug. Morand: Gris&lidis, Mystere en 3 actes, en vers 
libres. 3. A. Paris 1902. 

Madame de Saintonge, Po&sies diverses t2d enthält: Griselde ou la 
Princesse de Saluces, come@die. Dijon 1718. 


Allgemeine Literatur. 


Annales dramatiques. 4. Bd. Paris 1809. 

T. de Banville: Petit trait& de po&sie francaise, Paris 1891. 

Al. Dumas fils: La Princesse de Bagdad. Paris 1881. 

Grein: Der Reim bei Th. v. Banville. Dissert. Kiel 1903. 

Cat. Mend2£s: Rapport sur le mouvement poetique frangais. Paris 1900. 
E. O. Lubarsch: Französische Verslehre, Berlin 1879. 

Le Petit de Julleville: Les Mystöres, 2 Bde. Paris 1880. 

L. Quicherat: Trait€e de versification francaise. Paris 1850. 
Saint-Marc-Girardin: Cours de litterature dramatique. 4. Bd. Paris 1860. 


144 Richard Schuster. 


A. Schenk: Etudes sur la Rime dans Cyrano de Bergerac. Diss. 1900. 

Jacob Spon: Miscellanea eruditae antiquitatis. Lyon 1688. 

H. P. Thieme: La litterature francaise du 19e siecle. Paris 1907. 

H. Wieck: Die Teufel auf der mittelalterlichen Mysterienbühne Frank- 
reichs. Marburger Dissertation. 1887. 


Spezialliteratur. 


H. Groeneveld: Die älteste Bearbeitung der Griselidissage in Frank- 
reich. Marburger Diss. 1886. 

Gubernatis, A.: Sacountala et Griselda. (Vortrag, gehalten im Sep- 
tember 1902 auf dem 13. Orientalistenkongress in Hamburg.) 

R. Köhler: Kleinere Schriften zur erzählenden Dichtung des Mittelalters. 
2. Bd. 1900. 

O. Siefken: Der Konstanze-Griseldistypus in der englischen Literatur 
bis auf Shakspere. Beilage zum Jahresbericht des Progymna- 
siums Rathenow. Rathenow 1903. 

F. X. Wannenmacher: Die Griselidissage auf der iberischen Halbinsel. 
Strassburger Dissert. 1894. 

Fr. von Westenholz: Die Griseldissage in der Literaturgeschichte. 
Heidelberg 1880, 

Gust. Widmann: Griselidis in der deutschen Literatur des 19. Jahr- 
hunderts. Tübinger Diss. 1904. 


Weitere Literaturangaben siehe in und unter dem Fext. 


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Druck der Ulmer Zeitung A.-G. 


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selidis in der franzsischen Lite 


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